Die Angst des wei�en Mannes
»obésité«, die selbst auf China überzugreifen beginnt. Der androgyne Wuchs vieler Frauen ist weit vom Schönheitsideal der Vergangenheit entfernt.
Noch beklagen sich die Feministinnen zu Recht über die unzu reichende Präsenz von Frauen in wirtschaftlichen Führungspositio nen. Aber seit – selbst im Krieg – nicht mehr die Kraft des Bizeps den Ausschlag gibt und durch die Pille die Schwangerschaft regu lierbar wurde, dürfte zunehmend »das zweite Geschlecht – le deu xième sexe« Macht und Einfluß gewinnen. Wer jemals Seminare an Universitäten leitete, weiß, daß die Studentinnen durch schnellere Auffassungsgabe, durch unbefangene Meinungsäußerung und durch gesteigerten Ehrgeiz ihre männlichen Kommilitonen recht blaß er scheinen lassen.
Während sich die Öffentlichkeit dazu beglückwünscht, daß das Durchschnittsalter des Menschen demnächst auf über hundert Jahre ansteigen könnte, stellen sich nur die wenigsten die Frage, ob eine solche Langlebigkeit mit der im Rhythmus von Jahrtausenden ent standenen Normalität, den physischen und psychischen Gesetzen, denen wir unterliegen, überhaupt zu vereinbaren ist. Die ständige Vermehrung von Demenz-Erkrankungen im hohen Alter könnte eine schreckliche Mahnung beinhalten.
Auffälligist auch die geringe seelische Belastbarkeit, die sich zu mal bei jungen Soldaten zeigt. Obwohl sie nie wirklich im Feuer ge standen haben, bedürfen sie einer psychologischen Betreuung, von der in früheren Kriegen nur in Extremfällen die Rede war. Das seien nur vage Hypothesen, wird man entgegenhalten, aber die Natur könnte uns noch mit ganz anderen Überraschungen zusetzen.
Befinden wir uns an der Schwelle einer neuen Evolution unserer Gattung? Werden die Allmacht des Computer-Systems, des Inter nets, die Omnipräsenz der elektronischen Überwachung und die Perspektive eines eventuellen Cyber-Wars gewisse Hirnfunktionen ausschalten, umgestalten oder weiterentwickeln? Im Jubiläumsjahr des Darwinismus sind solche Überlegungen ja wohl erlaubt. Wir haben die Schreckensvision Orwells, die er in seinem Buch 1984 auf zeichnete, längst überholt, und die düsteren Vorstellungen H. G. Wells’ von einer »Brave New World« liegen bereits hinter uns. Man bedenke, daß das nationalsozialistische Deutschland noch vor sieb zig Jahren von der Reinheit der nordischen, der germanischen Rasse fabulierte, von der Vorherrschaft der blonden Herrenmenschen, um festzustellen, wie plötzlich diese Utopie einer Gemischtrassigkeit gewichen ist, die uns täglich auf den Straßen Europas und Amerikas begegnet.
In diesem Zusammenhang die existentielle »Angst des weißen Mannes« zu erwähnen, entspringt keiner Verzagtheit, keiner Pho bie, sondern verweist auf eine Veränderung unserer Spezies, die mit den kühnen Navigatoren der Lusiaden begann und in Brasilien, der gewichtigen Tochter Portugals, zur Realität wurde.
Vor der Marienstatue von São Francisco hatte sich eine Gruppe – von Schwarz bis Weiß variierend – zum Gebet des Rosenkranzes eingefunden. Wie würden diese Menschen den Verlust der dogmatischen Gewißheiten und der jenseitigen Verheißungen verkraften? Man glaube nicht, ich sei einem Anfall von Frömmelei erlegen, aber ich empfand es als seltsames Omen, als mir beim Verlassen der Kirche ein dunkelhäutiger Mönch einen Zettel in die Hand drückte, auf dem das Gebet seines heiligen Ordensgründers abgedruckt war: »Herr, benutze mich als Werkzeug Deines Friedens, damit ich die Wahrheitverkünde, wo der Irrtum vorherrscht, daß ich Dein Licht in der Finsternis scheinen lasse, daß ich Freude stifte, wo Traurigkeit herrscht; denn indem wir uns selbst vergessen, finden wir zu uns selbst, und im Tode werden wir zum ewigen Leben auferstehen.«
AusGründen der Diskretion habe ich die Namen meiner
Gesprächspartner gelegentlich geändert. Das gilt nicht für Personen des
öffentlichen Lebens und deren Aussagen, die exakt wiedergegeben werden.
Bei der Transkription von Ausdrücken aus fremden Sprachen habe ich
mich an die übliche, allgemein verständliche Schreibweise gehalten.
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