Die Angst im Nacken - Spindler, E: Angst im Nacken
Leben geht weiter.“
„Nicht so ganz, Anna. Solange Sie auf Grund Ihrer Vergangenheit so viel Angst mit sich herumschleppen, dass Sie sich verstecken, ist Ihre Vergangenheit nicht vergangen, sondern lebendige Gegenwart.“
Jaye hatte fast dasselbe zu ihr gesagt. Ebenso ihr Vater neulich am Telefon. Und vor wenigen Minuten indirekt auch ihr Agent.
Holen Sie sich professionelle Hilfe wegen dieses Problems, denn es ist ein Problem, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen.
Wer könnte ihr besser helfen als ein Psychologe mit dem Spezialgebiet Kindheitstrauma? Und wer war kenntnisreicher als jemand, der ein Buch zu diesem Thema schrieb?
Mach es. Was hast du zu verlieren?
„Erklären Sie es mir noch einmal“, erwiderte sie leise. „Warum wollten Sie unbedingt mit mir reden?“
„Treffen Sie sich mit mir, und ich erzähle Ihnen alles über mich, meine Praxis und dieses Projekt. Ganz unverbindlich. Wenn Ihnen die Sache unbehaglich ist oder Sie nicht interessiert sind, werde ich Sie nicht mehr belästigen. Versprochen.“
Sie hörte seiner Stimme die unterschwellige Begeisterung an und erwärmte sich für die Sache. Trotzdem zögerte sie noch. Andererseits, sie hatte bereits Jaye verloren, ihre Anonymität war dahin, und ihre Karriere als Autorin durfte sie wohl auch abschreiben. Was blieb ihr übrig, als die Flucht nach vorn anzutreten?
„Okay“, stimmte sie zu. „Wir treffen uns. Wie wäre es mit heute Nachmittag, fünf Uhr im Café du Monde? Wer zuerst da ist, besetzt einen Tisch.“
14. KAPITEL
Donnerstag, 18. Januar,
16 Uhr 45.
Anna war schon früh am Café du Monde. Am Jackson Square im French Quarter gelegen, war es berühmt für seine Spezialität: Beignets. Diesem Gebäck verdankte das eigentlich unauffällige Café, dass es zu einer Legende geworden war. Kein Touristenbesuch in New Orleans war komplett ohne zumindest eine Einkehr, um Beignets zu kosten. Auch die Bewohner der Stadt waren nicht immun gegen die Verlockungen des Cafés und kauften ihre Beignets kaum woanders. Schließlich war das Beste das Beste, und wenn man es einmal probiert hatte, warum sich mit weniger begnügen?
Trotz der Kälte wählte Anna einen Tisch draußen an der St. Peter Street. Sie liebte diese Tageszeit – das geschäftige Treiben, wenn die arbeitende Bevölkerung heimwärts strebte, den Wechsel von hell zu dunkel, von Tag zur Nacht, von hektisch zu gemütlich.
Sie bestellte einen Café au lait, lehnte sich zurück und beobachtete die Menschen. Sie sah in die Gesichter der Vorübergehenden, bemerkte Körpersprache und Ausdruck, fing Gesprächsfetzen auf und bewahrte alles in der Erinnerung, um es irgendwann als Szenen oder Typen in ihren Büchern zu verwenden.
Menschen faszinierten und ängstigten sie. Sie waren ständiger Quell der Freude, Neugier und Verteufelung. Sah ein Psychologe seine Patienten vielleicht ebenso? Besonders Dr. Walker?
Sie fröstelte plötzlich und war dankbar für den dampfend heißen Kaffee, der ihr gebracht wurde. Beide Hände um den warmen Becher gelegt, gestand sie sich ihre Nervosität ein. Seit ihrer Entführung hatte sie etliche Psychologen kennen gelernt. Den letzten, eine Psychologin, mit sechzehn. Damals war sie ein emotionales Wrack gewesen – depressiv, argwöhnisch und misstrauisch. Ihre Eltern, deren Ehe zerbrochen war, hatten sie zu dieser Therapie gezwungen. Sie brauche jemand zum Reden, hatten sie beharrt, der ihre tiefsten, dunkelsten Geheimnisse teilte. Jemand, der sie verstand und ihr half, ihre Gefühle zu verarbeiten.
Doch die Psychologin hatte sie nicht verstanden. Wie sollte sie auch? Schlimmeres als eine schlecht sitzende Frisur war der nie widerfahren. Die Therapeutin war herablassend gewesen, und ihre bohrenden Fragen hatten von keinerlei Einfühlungsvermögen gezeugt.
Anna erinnerte sich an ihre Abneigung gegen die Frau. Und sie hatte ihren Eltern sehr verübelt, dass sie ihr diese Therapie aufzwangen. Als diese endlich Einsicht zeigten und ihr gestatteten, die Therapie zu beenden, hatte sie sich geschworen, sich nie wieder so einem Psychoterror auszusetzen.
Also, was zum Teufel tat sie dann hier? Anna sah auf ihre Uhr. Der Doktor verspätete sich bereits um zehn Minuten. Sie sollte sich vielleicht drücken. Einfach aufstehen und gehen.
Warum nicht? Durch seine Verspätung lieferte er ihr einen Vorwand, sich der Sache elegant zu entziehen. Sie konnte gehen und musste nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei haben. Sie holte ihr Portemonnaie aus der
Weitere Kostenlose Bücher