Die Angst im Nacken - Spindler, E: Angst im Nacken
Handtasche, um ihren Kaffee zu bezahlen. Dabei merkte sie, dass ihr die Hände zitterten.
„Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe.“ Ben Walker kam von hinten und nahm im Sessel ihr gegenüber Platz. „Ich konnte meine Schlüssel nicht finden. Heute Morgen hatte ich sie noch, und dann waren sie plötzlich fort. Was für ein Morgen“, fügte er hinzu und lockerte sich die Krawatte. „Der Wecker klingelte nicht, und ich habe verschlafen. Was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass ich die halbe Nacht im Internet recherchiert habe.“ Er lachte. „Ich sage Ihnen, es ist ein Glück, dass ich nicht unterrichte. Ich wäre der klassische Fall des zerstreuten Professors.“ Er verstummte, nahm ihren Gesichtsausdruck wahr, das geöffnete Portemonnaie und die zwei Dollar neben dem halb vollen Kaffeebecher und fragte zerknirscht: „Um wie viel habe ich mich verspätet?“
„Nicht sehr“, erwiderte sie, etwas beruhigt durch seine Selbstironie. Wie könnte sie sich von einem selbsternannten Tollpatsch einschüchtern lassen? Sie atmete tief durch und fühlte sich ertappt. „Offen gestanden, hatte ich plötzlich Bedenken wegen unseres Treffens. Meine Erfahrungen mit Psychologen sind nicht die besten.“
„Sie haben Psychologen unter Ihren Bekannten?“
Sie zog die Stirn in Falten. „Ich kann Ihnen nicht folgen. Was hat …“
„Haben Sie?“
„Nein, aber …“
„Wie ist es mit Familienangehörigen? Freunden?“ Sie verneinte wieder, und er zog die Brauen hoch. „Das heißt also, Sie hatten immer eine Therapeut-Patient-Beziehung zu Psychologen.“
„Ja, allerdings. Mehrfach.“ Erklärend fügte sie hinzu: „Als ich noch um einiges jünger war.“
„Nach der Entführung?“
„Das ist ja wohl logisch.“ Das Kinn leicht vorgereckt, bekräftigte sie: „Ja, nach der Entführung.“
Die Kellnerin erschien. Ben bestellte Café au lait und einen Teller Beignets und blieb bei seinem Thema. „Das war nicht die Art Beziehung, die mir vorschwebte.“
„Nein? Was für eine Beziehung genau schwebt Ihnen denn vor?“
„Eine von Autor zu Autor, Interviewer zu Interviewtem. Vielleicht sogar, und wenn ich Glück habe, von Freund zu Freundin.“
Ein Lächeln zuckte um ihren Mund, und Anna erkannte fast erschrocken, dass sie Ben Walker mochte. Außerdem verspürte sie nicht mehr den Drang zu verschwinden. Sie schloss ihr Portemonnaie und steckte es in die Tasche zurück. „Sie sind gut.“
Er lachte, bedankte sich und beugte sich, ernster werdend, vor. „Anna, ich bin wirklich nicht hier, um Sie zu analysieren. Ich hoffe, dass Sie schlicht und einfach über Ihr Leben und Ihre Gefühle mit mir reden, über die Entscheidungen, die Sie im Leben getroffen haben, und die Gründe dafür.“
„Ich versichere Ihnen, meine Lebensgeschichte ist alles andere als faszinierender Lesestoff“, erwiderte sie trocken.
„Da irren Sie sich. Für mich wird er faszinierend sein und für die Menschen, die zu meinem Buch greifen, auch. Ich möchte Ihnen ein wenig von mir und meiner Arbeit erzählen. Vielleicht verstehen Sie dann, warum ich es so wichtig finde, Sie zu befragen.“
Er begann mit seiner Kindheit und Schulzeit. Als einziges Kind einer allein erziehenden Mutter, die er verehrte, war er aus einer kurzen Beziehung hervorgegangen, über die seine Mutter nicht sprechen mochte. Abgesehen von einem Onkel hatte er keine Verwandten. An seine frühe Kindheit erinnerte er sich kaum, außer dass sie häufig umgezogen waren.
„Ohne Freunde und Familie war ich meist einsam. Dann kam ich in die Schule und war begeistert. Ich lernte gern, und Bücher wurden meine ständigen Begleiter. Auch Schulwechsel machten mir nichts aus, weil ich ja überall weiterlernen konnte.“
Anna stützte das Kinn auf die Faust und lauschte gebannt. Seine Stimme war melodisch und beruhigend. „Warum haben Sie sich für Psychologie entschieden?“
„Ich wollte Menschen helfen, aber ich ertrage den Anblick von Blut nicht.“ Er grinste. „Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Menschen faszinieren mich. Ich will wissen, warum sie tun, was sie tun, und was sie zum Ticken bringt. Es interessiert mich, wie gravierende Ereignisse Menschen beeinflussen.“
Sie musste zugeben, dass sie sich als Autorin von denselben Dingen fesseln ließ. Deshalb konnte sie in ihren Romanen abgerundete Charaktere mit Stärken und Schwächen schildern, deren manchmal tragische Vergangenheit weitreichende Auswirkungen auf ihre Gegenwart hatte. „Warum
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