Die Angstmacher
und Wien fahren sie noch. »Mit der Formel 11 erfolgreich in den Herbst«, steht auf der Leinwand. Die letzten Monate eines Jahres sind für die Vermittler die wichtigsten. In dieser Zeit entscheiden sich Kunden weitaus häufiger als im Frühjahr und Sommer für den Abschluss eines Vertrags. Das Unternehmen will die Vermittler beim Verkauf unterstützen. Verkaufsargumente geben, mögliche Einwandbehandlung zeigen, heißt das so schön. »Wie können wir Sie dabei unterstützen, dass Sie Ihre Vertriebsziele erreichen?«, fragt Produktmanager Lutz Gronemeyer. In der nächsten Dreiviertelstunde gibt er darauf nicht wirklich eine Antwort. Aber er sagt den Vermittlern, was die ihren Kunden sagen sollen. Denn, diese Parole darf bei einer Vertriebsveranstaltung nie fehlen, und auch Gronemeyer vergisst sie nicht: »Versicherungen werden nicht gekauft, sondern verkauft.« Und wie das geht, zeigt der Mann mit der orangen Krawatte am Beispiel des Paars Thorsten und Petra, das ein kleines Kind hat. Thorsten verdient gut. »Aber was machen Petra und das Baby, wenn ihm etwas passiert?«, gibt der Produktmanager als Fragemöglichkeit vor. Die Versicherungsbranche ist konservativ. Sie arbeitet gerne mit Rollenklischees. Was haben Petra und das Baby, was bleibt ihnen übrig, wenn Thorstens Verdienst wegfällt? Die Antwort gibt der »Bedarfsrechner« des Unternehmens, der frei zugänglich im Internet die Hinterbliebenenversorgung ausrechnet. Petra würde alles in allem 500 Euro bekommen, wenn Thorsten sterben würde. Jetzt hat er 2000 Euro netto. Ihr würden also 1500 Euro fehlen, rechnet der Mann auf der Bühne vor. Das entspricht einem Kapital von fast 400 000 Euro, das der Familienvater in seinem Leben erarbeiten würde. Thorsten ist Raucher. Die Absicherung würde 141 Euro im Monat kosten, viel Geld. Der Einwand der Kunden an dieser Stelle ist naheliegend, nicht nur Lutz Gronemeyer kennt ihn: »Zu teuer.« Die Lösung: Der Vermittler hat ein weiteres Angebot. Stirbt Thorsten erst in zwölf oder zwanzig Jahren, ist der Absicherungsbedarf niedriger, denn Thorsten würde ja weniger Kapital erarbeiten in der Restlebenszeit. Also sinkt die Versicherungssumme nach und nach, diese Police kostet 60 Euro. »Das sind 81 Euro Ersparnis«, ruft Gronemeyer begeistert. Aber möglicherweise ist das für die junge Familie immer noch zu viel. Also gibt es noch ein anderes Angebot. Thorsten zahlt 30 Euro am Anfang und später mehr. Nach 15 Jahren ist er zum Beispiel bei 60 Euro. »Sie haben die doppelte Ersparnis fürihn herausgeholt«, lobt der Mann die Vermittler. Denn der Vertrag für 30 Euro hat die Wertigkeit dessen, was der für 141 Euro hat, argumentiert er. Den Vertrag für 141 Euro würde Thorsten aber nicht abschließen, weil er zu teuer ist. Der Versicherer und damit der Vermittler könnte gar kein Geschäft machen. Bei dieser Strategie steigt der Makler hoch ein und kann auf den Einwand des Kunden mit einem Angebot reagieren. »Im Endeffekt wird Thorsten dankbar sein«, sagt der Mann auf der Bühne. Wenn er denn lange genug lebt. Und die 111 Euro, die Thorsten spart, kann er in die Altersvorsorge stecken. Das freut den Makler, für den automatisch ein neuer Verkaufsansatz entsteht. Er hat zwar – theoretisch – ein hohes Berufsethos. Praktisch muss aber auch er von etwas leben.
Anhauen, Umhauen, Abhauen
Unabhängige Vermittler haben immerhin ein Berufsethos. Bei abhängigen Vertretern und Mehrfachagenten sieht das nicht unbedingt so aus. »Anhauen, umhauen, abhauen«, beschreibt die unabhängige Finanzexpertin Mechthild Upgang die Vorgehensweise vieler Vermittler. Die Heerscharen von Versicherungsverkäufern, die nicht beraten, sondern nur verkaufen wollen, nehmen gerne auf dem Sofa potenzieller Kunden Platz und gehen erst wieder, wenn die unterschrieben haben. Diese Penetranz ist nur eine von vielen Strategien. Die Verkäufer haben eine ganze Menge Tricks auf Lager, um Policen an den Mann und an die Frau zu bringen. Manche sind skrupellos. Diese Erfahrung musste die neunundsiebzigjährige Elfriede Ulrich machen. Ihre Unfallversicherung der Victoria lief aus. Die hatte sie vor vielen Jahren auf Drängen ihres mittlerweile verstorbenen Mannes abgeschlossen, der Angst um seine mit dem Fahrrad fahrende Frau gehabt hatte. Das Auslaufen einer Police ist für Versicherungsvertreter ein prima Anlass, Kunden einen Besuch abzustatten. Gleich zwei Vertreter von ERGO standen im Frühjahr 2011vor Elfriede Ulrichs Tür. »Die beiden haben heftig
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