Die Angstmacher
Schmerzensgeld und mehr Rente, als er bislang gezahlt hat, teilweise die dreifache Zahlung. »Mit dem Urteil hat das Landgericht bestätigt, dass die Generali jahrelang Entschädigungsansprüche rechtswidrig gekürzt hat«, sagt Anwalt Jürgen Hennemann. Die Richter sprechen Sarah T. über 130 000 Euro mehr an Schmerzensgelds und 164 074 Euro an offenen materiellen Schadensersatzansprüchen zu – das sind fast 300 000 Euro, die der leidgeprüften Familie gerade in den ersten Jahren nach dem Unfall das Leben sicher erleichtert hätten. Außerdem hat das Gericht einen Rentenplan aufgestellt, der bis ins Jahr 2063 reicht.
In der Pressemitteilung der Generali zum Urteil, in der davon keine Rede ist, stellt die Gesellschaft sich als Sieger dar. »Generali Versicherungen sehen sich durch das Urteil des Landgerichts bestätigt«, heißt es. Seine Haltung begründet das Unternehmen mit dem Wohl des Opfers. »Wir sehen uns in der Verantwortung, eine lebenslange Versorgung von Sarah T. zu gewährleisten, das ist nur mit einer Rentenlösung möglich«, sagt eine Generali-Sprecherin. So viel Fürsorge ist schön. Sie hat für den Versicherer den Vorteil, dass er möglicherweise weniger zahlen muss als bei einer Kapitalabfindung. Stirbt ein zum Pflegefall gewordenes Unfallopfer, fallen die Betreuungskosten weg. Aberdarum geht es nicht in erster Linie. Viel wichtiger für die Assekuranz ist, dass sie durch die bestehende Form der Schadenregulierung gegenüber dem Opfer absolut im Vorteil ist.
Die Angehörigen von Sarah T. nehmen das Urteil nicht hin, sondern rufen die nächste Instanz an. »Wir gehen bis zum Bundesgerichtshof«, sagt Anwalt Jürgen Hennemann. Mit seiner Forderung nach einer Wahlmöglichkeit zwischen Abfindung und Rente ist er nicht allein. Die Verbraucherorganisation Bund der Versicherten beobachtet, dass die Gesellschaften nach einer jahrelangen wirtschaftlichen »Austrocknungsphase« Geschädigte mit geringen Zahlungen abspeisen. »Der Verletzte muss zwischen einer angemessenen Kapitalabfindung oder einer Rente wählen können«, erklärt Thorsten Rudnik vom Bund der Versicherten, der das Verfahren beobachtet hat. Erscheint es den Versicherern günstig, sind sie durchaus dazu bereit, Unfallopfern eine Abfindung zu zahlen. Sie verschaffen sich also faktisch ein Wahlrecht. Die Geschädigten haben kein Wahlrecht. »Das Opfer oder die Angehörigen wissen selbst am besten, was richtig für sie ist«, sagt Rudnik. Der Bund der Versicherten sucht Verbündete aus Politik und Wissenschaft, um eine entsprechende Gesetzesänderung zu erreichen.
Anwalt Jürgen Hennemann hofft auf eine Grundsatzentscheidung zur Frage Abfindung versus Rente. »Mit dem Urteil des Landgerichts Hamburg im Rücken ist es für meine Mandantin komfortabel möglich, das durchzustehen«, sagt er. Denn immerhin bekommt Sarah T. jetzt mehr Geld. Dass die Generali hartleibiger ist, als ein anderer Versicherer es in diesem Fall wäre, glaubt Hennemann übrigens nicht. »Geht es um substanzielle Summen, verhalten sich die Versicherer alle gleich«, sagt er. Und: Die Generali führt einen Abwehrkampf stellvertretend für die ganze Branche.
Hintergrund der Auseinandersetzung ist ein uralter Paragraf im Bürgerlichen Gesetzbuch. Absatz 1 des Paragrafen 843 mit dem Titel »Geldrente oder Kapitalabfindung« lautet: »Wird infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit dieErwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert oder tritt eine Vermehrung seiner Bedürfnisse ein, so ist dem Verletzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadensersatz zu leisten.« Der Paragraf stammt aus dem Jahr 1900. Damals hatte diese Regelung durchaus ihren Sinn, sagt Anwalt Jürgen Hennemann. Sie beruht auf der Idee, dem Geschädigten zu seinem Recht zu verhelfen, indem der Verursacher geschützt wird. Ein Arbeiter oder ein Knecht, der einen Kollegen durch einen Fehler bis zur Invalidität verletzt hätte, wäre mit einer einmaligen Kapitalzahlung völlig überfordert gewesen. Die Wahrscheinlichkeit wäre hoch gewesen, dass der Verursacher türmt oder sich umbringt. Das hätte dem Geschädigten nichts genützt. Heute ist die Lage aber völlig anders. »Heute haben nur die Versicherer etwas von diesem Paragrafen«, sagt Hennemann. »Der Paragraf schützt im Fall von Sarah T. einen multinationalen Konzern, der nicht schutzbedürftig ist.«
Die Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch ist in vielen Fällen kriegsentscheidend. Würde der Passus geändert, wären
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