Die Angstmacher
die Geschädigten von heute auf morgen in einer sehr viel stärkeren Position. »Dann wäre das auf die wirtschaftliche Zerstörung des Opfers ausgerichtete Verhalten des Versicherers nicht mehr möglich«, betont Jurist Hennemann. Geschädigte und Versicherer würden nur noch über eine Summe verhandeln. Es gäbe keine Nebenkriegsschauplätze mehr, auf die die Unternehmen die Auseinandersetzung verlagern können, um Zeit zu gewinnen und Macht zu demonstrieren. »Es würde nicht mehr darum gehen, ob der medizinische Dienst Gelegenheit hatte, die Gutachten durchzusehen, und das Opfer könnte nicht mehr endlos von einem Gutachter zum anderen geschickt werden«, erklärt der Fachanwalt. Heute müssen Unfallopfer mit Versicherern darüber diskutieren, ob das kaputte Kugellager am Rollstuhl ausgetauscht werden muss oder ob der Verunglückte jede Woche zur Reparatur rollen kann. Zeit hat er ja, kann der Versicherer sagen. »Würde sich die Abfindung als Anspruch durchsetzen, wäre das derzeitige Regulierungsmodell der Versicherer demTode geweiht«, ist Hennemann überzeugt. »Kein Taktieren, kein Hinhalten mehr.« Bei einem großen Schaden warten Versicherer erst einmal ab. »Im ersten Jahr nach dem Unfall passiert erst einmal gar nichts«, sagt er. Das Opfer sucht sich einen Anwalt, ist nach einiger Zeit unzufrieden, weil nichts passiert, und wechselt den Rechtsbeistand. Mit viel Glück bekommt der Geschädigte vielleicht eine Abschlagszahlung. Dann gehen dem Geschädigten langsam Geld und Geduld aus. Im zweiten Jahr übt er Druck auf den Anwalt aus, und der signalisiert dem Versicherer: Wenn jetzt nichts passiert, empfehle ich meinem Mandanten zu klagen. Doch das beeindruckt die Zuständigen in den Konzernzentralen nicht besonders. Sie wissen, dass sie am längeren Hebel sitzen. Liegt das Opfer wirtschaftlich am Boden oder kann psychisch einfach nicht mehr, machen die Unternehmen einen Vergleichsvorschlag. »Die Versicherer konterkarieren täglich, wogegen sie sich im Fall Sarah T. wehren«, sagt er. Im Fall Sarah T. verweigert der Versicherer die einmalige, angemessen hohe Kapitalabfindung mit Hinweis auf seine Fürsorgepflicht. In anderen Fällen schlagen sie aber genau diese Kapitalabfindung vor. Bieten sie Abfindungen an, kommen sie jedoch mit Summen, die deutlich unter dem liegen, worauf das Opfer einen Anspruch hat. »Nach unseren Erfahrungen sind es zwischen 5 bis 10 Prozent dessen, was den Geschädigten zusteht«, sagt Jurist Hennemann. Die Versicherer nutzen die Magie der hohen Zahl. Das Opfer bekommt eine Summe vorgeschlagen, die ihm möglicherweise hoch erscheint, die aber angesichts des ihm theoretisch Zustehenden niedrig ist. »Die Versicherer investieren viel in die Schulung spezieller Leute«, sagt Hennemann. »Da kommt dann ein Mitarbeiter zu dem Geschädigten und sagt: ›150 000 Euro – können Sie sich vorstellen, wie viel Geld das ist, wenn das hier auf dem Tisch liegt? Dann wären Sie alle Sorgen los!‹« Dass eine intensive Pflege teuer ist und auch sechsstellige Zahlen auf einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten nicht so hoch sind, wie sie scheinen, ist vielen nicht klar. »Wenn ich sagen könnte: ›Wir machen jetzt eine Abfindungsverhandlung, und vor Gerichtgeht es nur noch darum, wer richtig gerechnet hat‹, dann würde der Versicherer gleich ganz anders damit umgehen«, sagt Anwalt Jürgen Hennemann. Zu ändern wäre das heute übliche unwürdige Prozedere ganz einfach: indem die Aussage des Paragrafen 843 umgedreht und die Kapitalabfindung zum Regelfall erklärt würde. Anläufe dazu sind bislang gescheitert.
Doch auch ohne eine Änderung des Paragrafen 843 besteht Aussicht auf eine Stärkung der Position von Geschädigten. Denn die Rechtsprechung ist für die Interpretation des Gesetzes zuständig und ändert sich durchaus zugunsten von Kunden und Geschädigten. Der Paragraf 843 hat einen dritten Absatz: »Statt der Rente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.« Der »wichtige Grund« ist unbestimmt. Dazu gibt es wenige Urteile und wenig Fachliteratur. Die Hamburger Richter haben den »wichtigen Grund« im Fall von Sarah T. verneint. Aber ihre Kollegen am Bundesgerichtshof werden das möglicherweise anders sehen.
Die AXA und die Loveparade
Gerade Haftpflichtversicherer haben eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Geschädigte sollen nicht auf einem Schaden sitzen bleiben und im schlimmsten Fall von der Fürsorge leben müssen.
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