Die Ankunft
sprang über Felsen und abgebrochene Äste und schlüpfte durch Gebüsch. Auf einer kleinen Lichtung scheuchte sie eine Gruppe Rehe auf und unterdrückte das irritierende Verlangen, ihnen nachzujagen. Sie überquerte die Lichtung, schlug die Zweige einer riesigen Tanne beiseite und stoppte sehr plötzlich.
Vor ihren Füßen fiel der Waldboden steil ab. Schnee und loses Geröll rollten den Steilhang hinunter. Sibil klammerte sich an die Tannenzweige und rang um ihr Gleichgewicht. Hinter sich hörte sie leise Schritte und das Atmen eines Menschen.
Sie saß in der Falle.
„Du kannst jetzt aufhören, wegzurennen“, sagte eine Frauenstimme hinter ihr. „Du bist angekommen.“
Mit einem Schrei stürzte Sibil sich nach vorne, doch sie wurde festgehalten. Schlanke Frauenhände griffen ihre Arme und bewahrten sie vor dem Absturz. Sibil wehrte sich, doch die Fremde war überraschend stark. Gegen ihren Willen wurde Sibil herumgedreht, sodass sie ihre Verfolgerin ansehen musste.
Im fahlen Mondlicht stand eine zierliche Frau vor ihr. Feuerrotes Haar fiel ihr in wilden Locken bis auf die Hüften. Sie trug ein leichtes Leinenkleid und war barfuß. Die Kälte schien ihr ebenso wenig auszumachen wie Sibil.
„Mein Name ist Imagina“, sagte sie freundlich. „Ich bin gekommen, um dich abzuholen.“
„Aber...“
„Du kannst nicht alleine und wild im Wald leben. Du hast Raffaelus verlassen. Das war eine weise Entscheidung. Doch du brauchst Lehrmeister, die dich auf deine erste Verwandlung vorbereiten.“
„Du bist wie er...?“
„Nein.“ Imagina schüttelte den Kopf, dass ihre Locken tanzten. „Ich bin Tag, er ist Nacht. Ich bin Sonne, er ist Mond. Wir sind zwei Seiten einer Münze, aber ich bin nicht wie er.“
Sibil nickte verzagt.
„Komm mit“, sagte Imagina. „Ich zeige und erkläre dir alles. Deine Reise hat erst begonnen, du musst noch nicht alles verstehen.“
Sibil seufzte tief. Die fremde Frau hatte etwas Vertrauenerweckendes. Sie erinnerte Sibil an ihre Mutter, die vor so vielen Jahren im Kindbett ihres Geschwisterchens gestorben war. Sibil lehnte sich nach vorne, und Imagina umfing sie mit ihren Armen. Es tat unglaublich gut. Etwas in Sibils Innerem löste sich, und sie begann zu schluchzen wie ein Kind. Imagina strich ihr übers Haar. Schwieg. Sibil wurde schwindelig. Sie blinzelte in den Wald, der sich immer schneller um sie drehte. Der Schnee und die Umrisse der Bäume wurden zu einer schwarzweißen Masse, in der Sibil versank. Dann mischten sich dünne goldene Fäden in den Wirbel, Grün kam dazu und Himmelblau. Vogelgezwitscher drang an Sibils Ohren, und in ihre Nase stieg der Geruch von frischem Gras. Sibil blinzelte.
Sie stand in weichem, grünem Gras auf einer Lichtung. Imagina neben ihr hielt ihre Hand. Die Luft war warm und gleichzeitig frisch wie an einem Frühlingstag. Die Sonne ging gerade über den Baumwipfeln auf und beleuchtete ein hübsches, helles Steinhaus, das sich unter blühende Kirschbäume duckte. Ein sandiger Weg führte zur Tür. Ein niedriger Zaun grenzte einen Garten ab, in dem zarte Pflänzchen ihre Köpfe gerade aus der Erde schoben.
„Ja“, sagte Imagina. „Es ist Zauberei und kein Traum. Ich mag den Winter nicht.“
„Aber wie...?“
Imagina lächelte. „Das ist mein Geheimnis, Kleine. Nun komm mit und begrüße die anderen.“ Während Imagina Sibil zum Haus führte, nahm diese die Umgebung in sich auf. Die Kirschblüten verströmten einen lieblichen Duft. Hinter dem Haus befanden sich flache Stallgebäude, in denen Sibil Ziegen meckern und Kühe scharren hörte. Irgendwo krähte ein Hahn.
Imagina stieß die Haustür auf und schob Sibil ins dämmerige Innere. An einem Tisch saßen ein junger Mann und eine junge Frau, die beide aufsprangen, als Sibil eintrat.
„Du hast sie gefunden!“
„Wie geht es ihr? Wo war sie?“
„Langsam“, sagte Imagina. „Ja, Marcus, ich habe sie gefunden. Rosa, es geht ihr gut, sie rannte durch den Wald nach Westen. Ihr Instinkt hat sie schon in unsere Richtung geführt. Ich betrachte das als gutes Omen.“
Sibil betrachtete die beiden jungen Menschen schüchtern. Marcus war groß und schlank, aber muskulös, mit goldenen Locken und großen blauen Augen in einem Gesicht, das gerade einen ersten Bartflaum trug. Rosa war klein und mollig, mit langen, dunklen Zöpfen und einem ansteckenden Lächeln.
„Willkommen“, sagte sie und zog Sibil in eine freundschaftliche Umarmung. „Wie heißt du?“
„Sibil.“
„Ich bin
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