Die Ankunft
vielleicht verbrannt, und sie erinnerte sich nur nicht?
„Geht es dir gut?“, fragte eine schüchterne Stimme. Adam.
„Ich habe Angst“, flüsterte sie. „Werde ich auch...? Ich meine, muss ich auch...?“
„Du musst nicht“, flüsterte er. Sie spürte seine Körperwärme. „Nur wenn du bei uns bleiben willst, musst du. Es gibt auch andere Wege, aber wir leben sie hier nicht.“
„Ich bin kein Menschenfresser“, schluchzte Sibil.
„Schsch.“ Adam legte ihr zart einen Finger auf die Lippen. „Du hast die Wahl. Es gibt andere, die leben, ohne zu töten. Aber das ist der härtere Weg, denn das Tier in dir will Blut, und das von Menschen schmeckt am süßesten. Menschenblut macht uns mächtig. Mit Tierblut sind wir lediglich Wölfe.“
„Wie finde ich die anderen?“
„Sie finden dich, wenn du das willst. Aber entscheide nicht zu schnell. Gut und Böse gilt für uns nicht. Wir sind Ausgestoßene, wir machen unsere eigenen Regeln und versuchen zu überleben, so gut es geht.“
„Ich will keine Menschen töten!“
„Er wäre sowieso gestorben. An der Kälte, an der Pest, am Fieber, am Alter. Wir haben sein Schicksal nur beschleunigt, und er musste nicht leiden. Ein kurzer Schreck, und alles war vorbei für ihn. Genau das wünschen sich die Menschen, wenn sie die ersten Beulen unter ihren Armen entdecken.“
„Er war krank?“
„Nein. Wir würden ihn sonst nicht fressen. Aber wer weiß, ob er es nicht bald geworden wäre?“
Voller Abscheu wandte Sibil sich ab.
„Geh fressen, Adam.“
Er schüttelte traurig den Kopf.
„Ich gehe zuletzt, wenn alle satt sind. Ich bin der Rangniedrigste.“
Sie starrte in das trübe Weiß des verschneiten Nachmittages, bis ihr die Tränen kamen.
Noch am gleichen Abend fasste sie ihren Entschluss. Sie war dankbar für die Hilfe, die sie durch Raffaelus' Rudel erfahren hatte, aber dieses Leben wollte sie nicht führen. Die teuflischen Kreaturen hatten sich ihr leibhaftig gezeigt, was sie vermutlich zu einer Hexe machte, und sie hatte sogar mit dem Anführer gebuhlt. Wenn sie einen Rest ihres Seelenheiles retten wollte, musste sie das Weite suchen. Vielleicht existierte Gottes Vergebung ebenso leibhaftig wie die Versuchung.
Sie wartete, bis alle schliefen, erhob sich dann lautlos von ihrem Lager und schlich aus der Höhle.
Die Nacht war hell und angefüllt mit Geräuschen. Sibil tauchte in die Schatten der Bäume und begann zu laufen. Raffaelus würde ihrer Spur sicher folgen können, also musste sie möglichst schnell eine große Entfernung zurücklegen. Vielleicht verlor er dann das Interesse und ließ sie ziehen.
Sie rannte mühelos. Noch nie hatte sie sich so kräftig gefühlt. Dichtes Gestrüpp und umgestürzte Bäume waren kein Hindernis für sie. Leichtfüßig huschte sie durch den Wald. Eine dünne Schneedecke knirschte unter ihren Füßen. Die kalte Winternacht brannte auf ihrer Haut.
Sie erreichte eine Straße und rannte auf ihr weiter, in der Hoffnung, andere Reisende oder Fuhrwerke würden ihre Geruchsspur überdecken, doch der Schnee auf der Straße war unberührt. Nicht viele Reisende wagten bei diesem Wetter den Weg durch den Wald.
Ein Ziel hatte sie nicht. Nur weg von den teuflischen Kreaturen, weg von allen anderen Menschen, bis sie wusste, was mit ihr los war. Vielleicht würde das seltsame Gefühl vergehen und sie konnte ein normales Leben aufnehmen, irgendwo, wo niemand sie kannte. Sie hatte gehört, dass es Städte gab, die größer waren als Bedburg. Vielleicht stellten die Leute dort weniger Fragen, und sie konnte sich als Magd verdingen.
Die blasse Scheibe des abnehmenden Dreiviertelmondes stand hoch über den Bäumen, und sie wusste längst nicht mehr, wo sie war, als sie plötzlich begann, sich beobachtet zu fühlen. Sie blieb stehen und sah sich um, doch unter den Bäumen waren nur Schatten. Hatte Raffaelus die Verfolgung aufgenommen? Sie schnupperte. Sein typischer Geruch lag nicht in der Luft, dafür ein anderer, den sie nicht kannte, ein feiner, blumiger Duft, der sie an eine Frau denken ließ.
Sibil rannte weiter und wunderte sich gleichzeitig, dass sie immer noch nicht außer Atem war.
Nach einer Weile wurde der fremde Geruch stärker. Er wehte von rechts an sie heran, und nun meinte Sibil auch, einen Schatten zu sehen, der sich unter den Bäumen, jenseits des Straßengrabens bewegte. Beherzt sprang Sibil über den linken Straßengraben und rannte unter den Bäumen weiter.
Hier kam sie nicht mehr so schnell voran. Sie
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