Die Ankunft
Augen.
"Was ist los?", rief Marcus. "Was ist mit dem Kind?"
"Dem Kind geht es gut", schluchzte Rosa. "Aber Sibil... sie ist..."
Marcus stürmte an Rosa vorbei ins Haus. Mit wenigen Schritten hatte er die Stube durchmessen und stand im Schlafraum. Imagina kam ihm entgegen, doch er stieß sie zur Seite.
Auf dem Bett lag Sibil. Weiß, regungslos. Überall war Blut. Auf dem Boden, auf den weißen Laken, auf ihrer weißen Haut. Ihr Gesicht war regungslos. Sie atmete nicht.
"Sie ist gestorben", sagte Imagina leise. "Wir konnten nichts tun. Sie ist verblutet."
"Aber warum...?", fragte Marcus völlig betäubt.
"Ich weiß es nicht", flüsterte Imagina. "Die Geburt war lang und schwer, aber sie hatte alles schon gut überstanden. Dann ging die Nachgeburt ab, und sie hat nicht aufgehört zu bluten."
Marcus heulte auf und schlug sich mit den Fäusten gegen die Stirn.
Imagina ging still hinaus, in den Armen ein kleines, in Tücher gewickeltes Bündel.
"Wir brauchen Ziegenmilch", hörte er sie sagen. "Lauf zu Mattis. Er soll welche melken."
Marcus stand und sah auf Sibil hinunter. Sein kleines, wildes, lustiges Ding. Seine Geliebte, seine Frau, deren Balg er so geliebt hatte, als wäre es sein eigenes. Eine Familie hatten sie sein wollen. Jetzt war sie gegangen und hatte ihn allein zurückgelassen. Das Balg hatte sie gefressen. Es lebte, und Sibil war tot.
Er drehte sich um und ging hinüber zu Imagina. Sie schlug die Tücher beiseite und zeigte ihm ein kleines, rotes, blutverschmiertes, zerknittertes Gesichtchen.
"Sibils Tochter", sagte sie leise. "Willst du ihr einen Namen geben?"
"Sie wollte keine Tochter. Sie wollte einen Sohn. Er sollte Lentz heißen."
"Nun ist sie hier, die Kleine, und verdient einen schönen Namen."
"Und was ist mit Sibil? Warum ist sie nicht hier? Warum ist sie tot? Warum hat das Balg überlebt? Sie wollte es nicht! Es ist aus Unzucht entstanden!"
"Sie hat es geliebt", sagte Imagina. "Und auf deine vielen Fragen habe ich keine Antwort. Der Herr gibt, und der Herr nimmt wieder. Uns hat er Sibil genommen, aber das kleine Würmchen hiergelassen. Wir müssen sie behüten und aufziehen."
"Das Balg ist schuld!"
"Das Kind ist an gar nichts schuld, Marcus. Es ist kaum eine Stunde alt. Es ist das unschuldigste Wesen weit und breit. Und sie soll in Liebe aufwachsen. Auch du wirst lernen, sie zu lieben."
Marcus starrte auf das Kind hinunter, das winzige Wesen, das ihm seine Liebste genommen hatte. Er wusste, das Kind konnte nichts dafür, aber trotzdem spürte er nur Hass in sich.
"Lasst mich in Ruhe", schrie er. "Lasst mich alle allein!"
Er rannte an Rosa vorbei, die mit einer Schale Milch ins Haus kam, und schlug sich ins Unterholz.
"Wir werden ihn verlieren", sagte Imagina ruhig. "Hast du die Milch? Gut."
Sie tauchte den Finger in die Schale, die Rosa ihr hinhielt, und strich über das winzige Mündchen des Kindes. Sofort öffneten sich die Lippen, und die Kleine begann, begierig zu saugen.
"Hat sie schon einen Namen?", fragte Rosa mit tränenerstickter Stimme.
"Nein. Weißt du einen schönen?"
"Meine Mutter hieß Anna. Sie hat mich sehr geliebt. So, wie Sibil die Kleine geliebt hätte, wenn sie... wenn sie..."
"Dann ist es beschlossen", sagte Imagina. "Kleine Erdenbürgerin, du sollst Anna heißen."
18. Kapitel
Herbst 2012, Frankfurt am Main
« Ich höre, Sie haben ein pelziges Problem? »
Sams Vater war silbrig ergraut, schlank, braun gebrannt und sah aus wie George Clooney. Ich fand es schon beinahe ungerecht, dass in einer Familie schöne Männer so gehäuft auftraten, während andere Clans mit blassen Bierbäuchen und Hängeschultern auskommen mussten.
Meine Beine vertrugen noch keine Jeans, und so lieh ich mir eines von Sams T-Shirts und wickelte mir die Bettdecke um die Hüfte.
Sam ließ seinen Vater rein und begrüßte ihn herzlich. Dann kam Sams Vater auf mich zu und schüttelte mir die Hand.
„Andreas Koch. Freut mich, Sie kennenzulernen – unter den gegebenen Umständen...“
„Anna Stubbe. Ich freue mich auch.“
Er musterte mich von oben bis unten mit seinen hellen Augen.
„Ich höre, Sie haben ein pelziges Problem?“
„Ja... allerdings.“
„Erzählen Sie mal von Anfang an. Samuel, kochst du uns einen Kaffee?“
Während Sam in der Küche werkelte, erzählte ich meine Geschichte, so weit ich sie mir zusammenreimen konnte.
„Aber gesehen haben Sie Marcus am Set nicht?“, fragte Andreas Koch nach, als ich geendet hatte.
„Nein, er war nicht dort,
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