Die Ankunft
422 Jahren merkte ich, dass ihr Fehlen mich immer noch schmerzte.
"Du brauchst eine Aufgabe", bestimmte Katja, meine heimliche Gastgeberin, eines Nachmittags. "Such es dir aus. Cupcakes backen? Socken stricken? Origami?"
"Sehe ich so aus?"
"Du siehst unglücklich aus", sagte sie ernst, "und wie jemand, der zu viel Zeit zum Nachdenken hat."
"Das wird durch Basteleien auch nicht besser."
"Dann lern Chinesisch. Ich besorge dir einen Kurs."
"Wenn, dann Thailändisch."
"Soll mir recht sein. Hauptsache, du hörst auf zu grübeln."
"Mein Leben ist zum Kotzen, Katja! Da gibt es nichts zu grübeln. Und es will kein Ende nehmen!"
"Du bist jung und schön, Liebes, und das für immer. Die meisten Frauen, die ich kenne, würden dafür alles geben. Mich eingeschlossen."
"Du weißt nicht, wovon du sprichst! Da draußen gibt es einen Mann, der mir wichtiger ist als mein Leben, und ich kann nicht mit ihm zusammensein. Wäre ich eine ganz normale Frau, ich hätte wenigstens eine Chance. Aber so weiß ich, wenn er sich auf mich einlässt, verbringt er sein Leben zwischen den Stühlen. Alle zehn Jahre Ortswechsel, spätestens. Geheimniskrämerei. Er altert, ich nicht. Und Kinder können wir auch keine haben. Und das alles nur dafür, dass er für immer mit einer jungen, frischen Blondine zusammensein kann? Glaubst du nicht, dass sich das abnutzt?"
"Der Sohn von Andreas Koch."
"Genau. Woher weißt du...?"
Sie grinste. "Ich habe meine Kanäle."
"Weißt du dann wenigstens auch etwas über die Werwölfe?"
"Sie scheinen wieder untergetaucht zu sein. Seit einiger Zeit fehlt jede Spur von ihnen. Die Venatio haben inzwischen Verstärkung aus Frankreich und England. Eine Gruppe aus Süddeutschland ist gestern angereist, aber wir sind immer noch zu wenige. Wir versuchen, kritische Punkte wie den Flughafen im Auge zu behalten, aber wir können nicht sicher sein, dass sie uns nicht längst durchs Netz geschlüpft sind. Ein paar Wandler sind in Wolfsform im Spessart unterwegs, aber das Gebiet ist so groß, dass es reiner Zufall wäre, jemanden von ihnen zu treffen."
"Wie lange werde ich dann hier noch festsitzen?"
"Ich weiß es nicht, Anna. Ich bin nur die Herbergsmutter. Sie planen aber schon, dich außer Landes zu bringen."
"Wohin?"
"Ich weiß es nicht. Es wird aber jedenfalls nur eine Zwischenstation sein. Sobald du deine Verfolger abgehängt hast, kannst du gehen, wohin es dir gefällt."
Bei Sam würde es mir gefallen, dachte ich, aber ich sagte es nicht laut. Genug gejammert.
"Besorgst du mir einen Thailändisch-Kurs? Vielleicht kann ich noch ein paar Brocken lernen, bevor ich abgeholt werde."
"Na klar."
Am Abend klingelte es, aber es war nicht Katja mit dem Thailändisch-Kurs, es war Sam. Seit seinem letzten Besuch waren drei oder vier Tage vergangen, und er sah müde und unglücklich aus, als er sich auf das Sofa fallen ließ.
"Was ist los?", fragte ich.
"Stress", sagte er und ließ den Kopf nach hinten auf die Lehne fallen. "An der Uni. Wie stellen die sich das vor? Ich kann doch nicht von einer Woche auf die nächste einen Tausend-Seiten-Wälzer lesen? Noch dazu einen, der so schrecklich geschrieben ist, dass man kein Wort versteht."
"Das sind die Geisteswissenschaftler. Die gehen davon aus, dass du gerne liest."
Er gab ein Stöhnen von sich und schüttelte den Kopf.
"Kaffee? Glas Wein?"
"Nein danke. Nur ein bisschen Ruhe."
Ich kuschelte mich an ihn. Er war völlig verspannt, und ich begann, mit einer Hand zart seinen Nacken zu massieren. Ich konnte nicht glauben, dass die Uni das einzige war, was ihn belastete.
"Es ist etwas mit Alexa, stimmt's?"
Er öffnete die Augen und sah zu mir hinunter.
"Was meinst du?"
"Na, dein Stress. Der kommt nicht nur von der Uni."
Sein Seufzen gab mir recht.
"Ich glaube, sie hat etwas gemerkt. Sie verhält sich seltsam. Sie weiß, dass ich Geheimnisse vor ihr habe."
"Auch wegen meines Verschwindens? Was hast du ihr da eigentlich erzählt?"
"Du hättest familiäre Verpflichtungen. Eine schwer kranke Mutter im Allgäu. Und jüngere Geschwister, um die du dich kümmern musst."
"Im Allgäu ausgerechnet?"
"Warum? Da ist es schön. Und ich wollte etwas, das weit von hier entfernt ist."
"Aber sie glaubt dir nicht?"
"Ich weiß es nicht. Ich habe ihr Mails geschrieben, unter deinem Namen. Aber ich denke, sie wundert sich, dass du nie anrufst."
"Das könnte ich doch machen."
"Habe ich meinem Vater auch gesagt, aber er hält es für zu gefährlich. Er riskiert lieber, dass
Weitere Kostenlose Bücher