Die Ankunft
Raffaelus und Marcus hin und her.
"Denk nicht einmal daran", sagte Raffaelus. "Deine Strafe wird sein, alleine zu leben. Du bist der Verstoßene. Marcus bleibt bei mir. Ich brauche einen Mann zu meinem Vergnügen, und die anderen sind nicht nach meinem Geschmack."
"Das kannst du nicht machen", sagte er tonlos. "Ich habe nur... Er hat..."
Raffaelus lachte rauh.
"Sag du mir nicht, was ich tun kann. Ich zähle bis drei. Wenn du dann noch da bist, töte ich dich. Eins..."
Adam sah zu Marcus, bohrte seinen Blick in den des anderen. Innerhalb weniger Augenblicke hatte Marcus eine Entscheidung getroffen. er blieb sitzen und schüttelte den Kopf.
"Zwei..."
Adam streckte die Hand nach Marcus aus. Der sah weg.
Mit dem Jungen gehen? Allein in den Wäldern würden sie irgendwann ein Versorgungsproblem bekommen. Sie würden immer weiterziehen müssen, auf der Hut vor Bütteln, Jägern, Wächtern und Wandlern. Nein. Nicht sein Leben .
"Drei!"
Raffaelus machte einen mächtigen Satz auf Adam zu, doch dieser hatte in den letzten Wochen an Kraft gewonnen. Er schnellte rückwärts, duckte sich unter Raffaelus' Klauen hinweg, sprang aus der Scheune und rannte.
Raffaelus sah ihm nach. Dann drehte er sich zu Marcus und hielt ihm die Hand hin. Marcus ergriff sie, und Raffaelus zog ihn unsanft vom Boden hoch.
"Erwische ich dich noch einmal bei der winzigsten Kleinigkeit, die ich dir nicht erlaubt habe, töte ich dich auf der Stelle", sagte er. "Verlass dich darauf."
Marcus nickte. Diese Grenze würde er nicht überschreiten.
Tief in den Wäldern verspürte Adam einen Hass, wie er ihn bis zu diesem Tag nicht gekannt hatte.
22. Kapitel
Herbst 2012, Frankfurt Sachsenhausen
« Ich glaube nicht, dass es dabei eine Seite von dir gibt, die ich noch nicht kenne. »
Langsam verlor ich mein Zeitgefühl. Ich war seit etwa zwei Wochen in meinem Unterschlupf, und es kam mir vor wie Monate. Ich sehnte mich danach, mich zu verwandeln und zu rennen. Seit ich hier war, hatte ich nicht meine Wolfsgestalt angenommen. Der zugewachsene Garten und die kleine Terrasse waren die einzige Möglichkeit, ein wenig Frischluft zu bekommen. Für mich, die ich regelmäßige Joggingstrecken und Ausflüge in Wolfsgestalt gewohnt war, war das die Hölle.
Sam besuchte mich weiterhin regelmäßig, aber ich spürte, dass sich etwas zwischen uns verändert hatte. Er entglitt mir. Manchmal kam er nur für eine Stunde und ein Glas Wein. Dann saßen wir auf dem Sofa und tauschten Belanglosigkeiten aus, bevor er wieder aufbrach und in sein Leben zurückkehrte.
Sein Leben, das bedeutete auch Alexa. Wenn ich an sie dachte, erlebte ich eine merkwürdige Mischung der Gefühle: Auf der einen Seite vermisste ich sie, ihre Freundlichkeit und gute Laune, ihr unkompliziertes, argloses Wesen. Auf der anderen Seite verging ich vor Eifersucht. Sie lebte ihr Leben, ging zur Uni, hatte eine Zukunft und einen Mann an ihrer Seite, den ich mehr begehrte als alle vor ihm. Sie konnte mit ihm Spaghetti kochen, ihre Eltern besuchen, Hand in Hand über den Campus laufen, Freunde einladen. Sie verbrachte mit ihm gesellige Pärchenabende, ging mit ihm ins Kino, saß in Straßencafes. Sie fragten sich gegenseitig Lernstoff ab, sahen sich Fernsehserien an und schliefen aneinandergekuschelt ein. Vielleicht hatten sie keinen so großartigen Sex, aber das, was sie hatten, war von Dauer.
In meinem Leben war nichts von Dauer. Jetzt, wo ich so viel Zeit hatte, kramte ich die alten Geschichten wieder hervor. Mit meinem Vater, der gleichzeitig mein Großvater war, hatte ich eigentlich längst abgeschlossen. Er war ein armes Schwein gewesen, der von einem Werwolf erwischt worden war und die Macht genossen hatte, die der Biss ihm verliehen hatte. Er hatte sonst im Leben nichts gehabt, um seine Wut loszuwerden. Ein Außenseiter, ein ungebildeter Bauer, der das Pech gehabt hatte, in eines der dunkelsten Zeitalter hineingeboren worden zu sein.
Jetzt fing ich wieder an, meinen Vater zu hassen. Durch seine Taten hatte er meine Familie ausgelöscht. Vielleicht war auch die Blutschande der Grund dafür, dass ich schon bei meiner Geburt meine Mutter verloren hatte. Imagina hatte sie mir oft beschrieben, aber ich hatte nie ein Bild von ihr gesehen. Es gab keines. Meine Mutter Sibil war vom Erdboden verschwunden, die Erinnerung an ihr Gesicht ausgelöscht.
Ich hätte ihre Augen und ihr blondes Haar, hatte Imagina immer behauptet. Ich sah in den Spiegel und versuchte, meine Mutter in mir zu erkennen. Mit
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