Die Ankunft
derartige Kräfte hatte. Es war beunruhigend und aufregend zugleich, doch war es auch schwer, sich angesichts dieses Zustands zu konzentrieren. Ich wusste nicht, warum ich mich gerade in diesem Mischzustand befand. Es erschien mir am wahrscheinlichsten, dass meine zuvor langsamen Verwandlungen nun schneller abliefen, und vielleicht bedeutete das, dass ich kurz davorstand, mich in eine Wölfin zu verwandeln. Ich durfte jedoch keine Wölfin werden, durfte nicht so außer Kontrolle geraten und riskieren, erwischt zu werden. Ich spähte aus meiner Schlafzimmertür hinaus. Meine Stiefmutter und Dawn schliefen wahrscheinlich beide. Ich sah, wie der blaue Schein eines Computerbildschirms die Treppen am Ende des Korridors von unten her erhellte – mein Dad, der unten an seinem Computerspiel saß. Schnell schlich ich ins Bad und schluckte ein paar Schlaftabletten. Dann huschte ich zurück in mein Zimmer und mit Snoopy im Arm unter die Decke. Ich hatte seit Stunden nichts gegessen, und die Tabletten lösten sich schnell in meinem Magen auf. Dann schlief ich glücklicherweise ein.
Am nächsten Morgen war alles verschwommen. Ich erinnere mich, dass ich unmittelbar vor dem Klingeln des Weckers die Augen aufmachte. Meine Wimpern waren verklebt, der ganze Körper tat mir weh, und mein Schädel platzte fast vor krampfartigen, quälenden Kopfschmerzen. Mit flachem und zittrigem Atem blinzelte ich an die Zimmerdecke und versuchte, die Orientierung wiederzuerlangen. Dass ich die Verwandlung zugelassen hatte, hatte nicht gerade zur Lösung all meiner Probleme beigetragen. Im Gegenteil – ich hatte mich schon seit Tagen nicht mehr so schlecht gefühlt. Ich blieb liegen, bis mir der Wecker sein entnervendes Gejohle entgegenschmetterte, dann machte ich mich schnell fertig. Soweit ich das beurteilen konnte, war ich, abgesehen davon, dass ich mich irgendwie verkatert fühlte, wieder komplett mein Tagsüber-Ich. Der Tag verlief ganz normal – ein schnelles Frühstück, um meinen knurrenden Magen zu beruhigen, eine Fahrt zur Schule mit Spencer und seinen stimmungsaufhellenden Pheromonen, die erste Schulstunde mit Megan, die kaum mit mir sprach – was nicht an meinen mangelnden Kommunikationsversuchen lag. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich sie so abserviert hatte, doch quittierte sie meine Entschuldigungen mit einem Grunzen, bevor sie zu ihrer ersten Unterrichtsstunde aus dem Zimmer schoss. Na großartig. Wo immer ich in den darauffolgenden Schulstunden und in der Mittagspause auch hinging – alles lag hinter einem Nebelschleier aus sprechenden Menschen, quietschenden Stühlen und hell flackernden, fluoreszierenden Lichtern. Nach meinen Bemühungen, die Wogen zwischen Megan und mir zu glätten, zog ich mich wieder in mich selbst zurück. Ich hatte gedacht, ich hätte mich inzwischen an all das gewöhnt. Während Dr. Elliott damit beschäftigt war, ein paar Mordversuche zu unternehmen, hatte ich mich ziemlich schnell in die ganze Situation mit der Nächtlichen Emily und der Wölfin hineingefunden. Als er dann tot war, hatte ich geglaubt, es wäre mir irgendwie gelungen, zu verstehen, wie das Ganze funktionierte. Ich hatte meine Entstehungsgeschichte erfahren, und nun war es an der Zeit, sich zu erheben und die diversen, herrlich unfähigen und überspannten Erzschurken zu stellen, die in mein Verbrecheralbum kämen, und sie mit Leichtigkeit auszuschalten. Doch in meinem Fall änderten sich ständig die Regeln. Die Art meiner Verwandlung war nicht mehr länger strikt schwarz und weiß. Vorher hatte es eine exakte Trennung zwischen mir, der Nächtlichen und Werwolf-Emily gegeben. Ich überschritt irgendeine Grenze und peng – neue Persönlichkeit. Worum handelte es sich bei dieser neuesten Entwicklung? Irgendeine abgefahrene Mischform meiner selbst? War das die Endphase? Alle drei von uns vereint in einem Körper, inklusive einer Nächtlichen Emily, die ihren Schneid einbüßte, weil ich da war und ständig Angst bekam, während ich die Welt im Allgemeinen und wortwörtlich nur noch Grau in Grau sah, wie das der Fall ist, wenn ich eine Wölfin bin? Ich sehe gerne in Farbe. Farbe ist toll. Wenn ich also die Farbigkeit aufgeben müsste, um allmächtig zu werden, würde der Handel platzen. Dass ich zugelassen hatte, mich in die Nächtliche Emily zu verwandeln, hatte mich ins Schleudern gebracht. Wenn ich nachts meinen Ängsten nicht entfliehen konnte, indem ich entweder schlief oder mich verwandelte, wann konnte ich es dann überhaupt?
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