Die Ankunft
den Kopf. Doch meine Werwolf-Persönlichkeit schob diese Erinnerungen beiseite. Von uns allen war sie diejenige, die sich keinerlei Gedanken über den dummen toten Mann machte. Jetzt war es an mir, Dalton von oben herab anzuknurren. Ich beugte mich über ihn, Schnauze an Schnauze, und sah ihm erneut in die Augen. Er versuchte zu entkommen, doch auch wenn er der größere Werwolf war, war ich doch die Stärkere von uns beiden. Ich biss ihn in die Nase, wieder und wieder, und er jaulte jedes Mal frustriert auf. Bis er den Wink endlich verstand und Ruhe gab. Er sah immer noch zu mir hoch, allerdings still, resigniert. Er wusste ebenso gut wie ich, dass er hier nicht das Sagen hatte. Weil ich das Alpha-Tier war.
Das Alpha-Tier.
Die meisten Kinder, die in der Grundschule etwas über Tiere lernen, wissen über das Alpha-Tier des Rudels Bescheid. Den Anführer. Ich hatte immer geglaubt, dass bei Wölfen lediglich die Männchen Alpha-Tiere sein könnten. Allerdings hatte ich auch immer geglaubt, dass Werwölfe sowie schatten-und geisterhafte Wesen nicht existieren würden. Offensichtlich galten für durch Genmanipulation geschaffene Werwölfe andere Regeln als für richtige Wölfe. Ich wusste nicht, was mich zum Alpha-Tier machte. Es war mir auch egal. Alles, was ich wusste, war, dass ich von dem Moment an, als mein Werwolfdasein in Gang gekommen war, das Kommando hatte. Ich war die Anführerin.
Und Dalton, der nachts und als Wolf derart außer Kontrolle geriet, erkannte das auch. Seine gelben Augen wurden sanfter. Er hörte auf, um sich zu schlagen, und seine Gliedmaßen entspannten sich. Sein Knurren und Jaulen wurden zu einem wehleidigen, zaghaften Winseln.
Ich ließ von ihm ab und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Ich musterte ihn misstrauisch, während er ebenfalls aufstand. Er hatte den Schwanz gesenkt und beinahe zwischen die Beine eingezogen. Ich deutete mit den Klauen in Richtung des Fensters, das er kaputtgemacht hatte und schüttelte knurrend den Kopf. Nein.
Gesenkten Haupts machte Dalton keinerlei Anstalten, seinen unerbittlichen Anschlag auf das Fensterglas wieder aufzunehmen.
Ich schaute selbst zum Fenster zurück. Soweit ich erkennen konnte, wand sich das Werwolfmädchen nicht mehr hin und her. Es lag ganz still da, und seine Brust hob und senkte sich so ruhig, dass man den Eindruck bekam, es wäre eingeschlafen. Bei der Entfernung und dem Blickwinkel konnte ich den Schattenmann nicht sehen. Wenn mir auch bewaffnete Männer und durchgedrehte Werwolfjungen keine Angst einjagten – diese Schatten taten es. Ich verspürte keinerlei Drang, näher hinzugehen und nachzusehen, ob sich diese Kreatur noch im Zimmer befand. Zu Dalton gewandt deutete ich in Richtung Wald. Wir stellten uns auf unsere vier Pfoten und gruben die Klauen in die Erde. Dann führte ich uns nach Hause.
12
Warum kannst du es mir nicht einfach erzählen?
Am nächsten Morgen erwachte ich langsam und lange bevor der Wecker klingelte. Irgendwie lag ich verkehrt herum im Bett, und meine Füße waren auf dem Kissen, während mein Kopf über das Bettende hinausbaumelte. Durch verquollene Augen erkannte ich meine Reihen von DVD s, meinen Fernseher, mein Bücherregal. Trübes graues Tageslicht drang in mein Zimmer ein. Gähnend rollte ich mich herum und streckte die Arme aus. Ich krabbelte über die Bettdecke zu meinem Beistelltisch und setzte die Brille auf. Mein Wecker zeigte kurz nach sieben Uhr morgens. Mir blieb noch eine Stunde, bevor ich zur Schule aufbrechen musste. Ich schüttelte meine Kissen auf, lehnte mich dagegen und schaute an die Decke. Okay. Letzte Nacht. Was war letzte Nacht alles geschehen? Die Erinnerung kehrte wieder, in Form von Gedankenblitzen. Das Wettrennen zu BioZenith. Der Kampf mit den Wachmännern auf dem Dach. Dalton, der auf den Mann einschlug, bis sein Gesicht unkenntlich war. Dalton, der sich in einen Wolf verwandelte, und ich, wie ich hinter ihm herjagte. Ich, die sich wieder in dieses Mischwesen verwandelte. Das Werwolfmädchen, das an ihr Bett gekettet war. Der Schattenmann, der sie beobachtete. Ich, wie ich Dalton gegenüber den Ton angab. Weil ich das Alpha-Tier war.
Alpha.
Okay, das war eine ganze Menge, was ich da frühmorgens gleich als Erstes zu verdauen hatte, nachdem ich gerade erfrischt aus meinen verblassenden Träumen von einer Welt, in der ich keine Art paranormales Monster war, erwacht war. Ich konzentrierte mich auf das, womit ich am ehesten umgehen konnte: die Erkenntnis, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher