Die Ankunft
offensichtlich die Anführerin war. Ich hatte mich selbst noch nie als Anführerin gesehen. In den letzten Jahren des ausschließlichen gemeinsamen Abhängens mit Megan hatte ich die Entscheidungen für uns beide meist ihr überlassen. Das war einfacher gewesen. Das Einnehmen der Führungsrolle bedeutete viel, viel, viel mehr Druck, und wenn ich eines nicht wollte, dann war das Druck. Oder ich hatte nur geglaubt, dass ich das nicht wollte. Denn als ich so dalag und die stoppelige Struktur meiner Zimmerdecke anstarrte, gefiel mir die Vorstellung davon sogar. Hier war ich nun als momentan einziges Mädchen umgeben von zwei Werwolfjungs – und ich hatte das Sagen. Sie mochten größer sein, sie mochten verschlagener sein, letzten Endes mussten sie auf mein Kommando hören. Mir wurde bewusst, dass, seit ich Spencer zum ersten Mal in Wolfsgestalt begegnet war, wir uns nach diesem Schema verhielten. Ich beruhigte und beschützte ihn, wenn er verletzt war. Er und Dalton ließen sich von mir führen, was unsere Recherchen anbelangte und wenn es darum ging, zu entscheiden, wie wir mit diesem ganzen Wahnsinn umgehen sollten. Die letzten paar Abende hatte Dalton versucht, mir gegenüber die Führung zu übernehmen, doch hatte ich ihn dazu gebracht, zu BioZenith zu gehen. Ich hatte über ihn gewacht, als er anfing, die Kontrolle zu verlieren. Diese neueste Entwicklung hätte mich vielleicht ausflippen lassen sollen. Doch sie gefiel mir. Dadurch hatte ich zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl, als hätte ich eine Spur von Kontrolle. Sogar die seltsame Hybridform meines Selbst – Nächtliche, Tagsüber-und Werwolf-Emily, alle drei in meinem Bewusstsein vertreten – fühlte sich nicht so furchtbar fremd an. Ich nahm an, dass es sich dabei um eine Art neuen Übergangszustand handelte, irgendwo zwischen Mensch und Wolf. Alles, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass sich der Zustand, zur selben Zeit alle drei Facetten meines Selbst zu sein, so wie ich ihn durchlebt hatte, als ich Dalton erstmals als komplett verwandelten Wolf gesehen hatte, richtig angefühlt hatte. Die Emotionen meines Tagsübers. Die Nächtliche Stärke. Die Wolfs-Instinkte. Obwohl ich mich noch nicht an das Fehlen von Farben gewöhnt hatte. All das lag nur an der Programmierung. Richtig? Ich war keine Anführerin. Ich war nie eine gewesen. Doch war mir dieser Gedanke verhasst. Dass ich nur stark war, weil mich jemand so geschaffen hatte. Also pfeif drauf – was diesen Morgen anging, beschloss ich zu glauben, dass ich das Alpha-Tier war, weil ich mich selbst dazu gemacht hatte. Dieser Gedanke löste ein Hochgefühl in mir aus, das mich während des Frühstücks mit meiner Familie die ganze Zeit über begleitete, wo ich tatsächlich aß und mich unterhielt, ohne dass ich beim Anblick von Erdbeermarmelade automatisch an den toten Dr. Elliott dachte. Das Hoch hielt sich jedoch nicht lange, denn als ich nach draußen ging, um mich mit Spencer zu treffen, war er nicht alleine.
Er hatte bei mir am Straßenrand geparkt und lehnte an der Beifahrertür.
Und vor seinem Auto stand Megans weißer, rostiger Kleinwagen. Sie lehnte ebenfalls an ihrem Auto und schaute mich mit verschränkten Armen an, während ich die Haustür hinter mir zuzog.
Ich begann, langsam über den Rasen zu gehen und wollte den unvermeidlich peinlichen Augenblick so lange wie möglich hinauszögern.
Das ist nicht das Verhalten eines Alpha-Tiers.
Natürlich nicht. Ich stellte mich meinem Schicksal und schritt meinen beiden Freunden mit hoch erhobenem Kinn entgegen. » Hey, Leute«, sagte ich.
» Hey, Em Dub«, erwiderte Spencer. Er wollte mich umarmen, doch schrak ich zurück. Entmutigt ließ er die Arme sinken.
Megan schlenderte herüber und gesellte sich zu uns. » Ich konnte dich ein paar Tage lang nicht erwischen«, sagte sie mit wütendem Blick. » Ich dachte, es würde helfen, wenn ich einfach vorbeischaue.«
Ich schluckte. » Ja, tut mir leid. Weißt du was? Ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich hatte so viel zu tun, dass ich andauernd vergessen habe, dich anzurufen.«
» Mhm.«
Ich lächelte sie an, während ich Spencer beiseitenahm. » Entschuldige die peinliche Szene«, flüsterte ich ihm zu.
Er zuckte mit den Schultern und erwiderte: » Schon gut.«
» Kannst du mir einen Gefallen tun? Kannst du nach East Knowe fahren? Das WerwolfMädchen lebt dort. Vielleicht kannst du sie aufspüren.«
» Woher weißt du, dass sie dort ist?«, fragte er.
Hinter uns räusperte sich
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