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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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herausgegeben, das ich Ihnen gerne leihen will. Es ist vielleicht das Standardwerk schlechthin zu diesem Typus. Aber wahrlich keine angenehme Lektüre, Miss Jones, denn das Fazit, das darin gezogen wird, ist, dass wir kaum etwas tun können. Das heißt, aus klinischer Sicht.«
    Lucy blieb vor dem Amherst-Gebäude stehen, und der kleine Arzt drehte sich voller Eifer zu ihr um und legte den Kopf ein wenig schief, wie um besser zu hören. Ein vereinzelter spitzer Schrei gellte aus einem der angrenzenden Gebäude durch die Luft, doch beide ignorierten ihn.
    »Wie viele Patienten wurden hier bei Ihnen als Psychopathen diagnostiziert?«, fragte sie unvermittelt.
    Er schüttelte den Kopf. »Ah ja, auf die Frage war ich gefasst«, sagte er.
    »Und die Antwort?«
    »Jemand, der als Psychopath eingestuft ist, würde sich für die Therapien, die wir hier anbieten, nicht eignen. Auch langjährige Heimunterbringung oder eine langwierige Behandlung mit psychotropen Medikamenten würde diesen Leuten nicht helfen, nicht einmal die eine oder andere drastischere Behandlungsmethode wie Elektroschocktherapie, auf die wir gelegentlich zurückgreifen. Ebenso wenig kommt für sie eines der traditionelleren Konzepte infrage, etwa die Psychotherapie oder auch« – und dabei kicherte er leise in dieser typisch selbstgefälligen Art, die er oft an den Tag legte und die Lucy eindeutig iritierend fand – »die klassische Psychoanalyse. Nein, Miss Jones, ein Psychopath hat im Western State Hospital nichts verloren. Vielleicht gehören diese Kerle ins Gefängnis, zumindest sind sie dort am ehesten zu finden.«
    Sie zögerte, bevor sie fragte: »Aber damit ist noch nicht gesagt, dass es hier keinen gibt, oder?«
    Dr. Gulptilil lächelte wie die Cheshire-Katze, bevor er antwortete. »Es ist keiner hier, Miss Jones, der mit dieser eindeutigen und unmissverständlichen Diagnose bei uns eingeliefert wurde. Wir haben einige, bei denen möglicherweise eine gewisse psychopathische Tendenz zu beobachten ist, doch nur als Begleiterscheinung einer Primärerkrankung anderer Art.«
    Ziemlich verärgert über die ausweichende Art des Doktors verzog Lucy das Gesicht.
    Dr. Gulptilil hüstelte. »Aber, Miss Jones, für den Fall, dass Ihr Besuch hier bei uns doch nicht, wie eine ganze Reihe von uns überzeugt sind, irregeleitet wäre und Sie mit Ihrer Vermutung richtig lägen, dann müsste es in der Tat einen Patienten mit einer klaren Fehldiagnose hier geben.«
    Er hob die Hand, sperrte die Eingangstür zum Amherst mit einem Schlüssel auf und hielt ihr mit einer kleinen Verneigung und aufgesetzter Galanterie die Tür auf.

14
    A n diesem Abend kehrte Lucy spät in ihr kleines Zimmer im Stock des Lernschwesternheims zurück, Dunkelheit umgab sie. Es war eines der entlegeneren Gebäude auf dem Klinikgelände, das sich nicht weit vom Kraftwerk mit seinem ständigen Brummen und der ständigen Rauchwolke über dem Dach isoliert in eine verschattete Ecke am Rand des Friedhofs duckte. Es war, als trügen die zufällig in der Nähe begrabenen Toten dazu bei, die Geräusche rund um das Gebäude zu dämpfen. Es war ein strenges, quadratisches, dreigeschossiges und efeubewachsenes Backsteinhaus im georgianischen Stil mit einem eleganten dorischen Säulen-Portiko, das vor fünfzig Jahren umgebaut und dann in den späten Vierzigern sowie erneut in den frühen Sechzigern umfunktioniert worden war, so dass die letzten Überreste eines Stein gewordenen Traums von einer prächtigen, hochherrschaftlichen Villa in Höhenlage bloße Erinnerung waren. Lucy trug einen braunen Pappkarton in beiden Händen, bis zum Rand mit drei Dutzend Patientenakten voll gestopft, die sie nach recht vagen Kriterien aus ihrer immer wieder überarbeiteten Namensliste herausgesucht hatte. Zu dieser Sammlung gehörten auch die Krankenblätter von Peter the Fireman und Francis, die sie an sich genommen hatte, als Mr. Evans gerade einmal nicht mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bei der Sache war. Die Unterlagen sollten endlich ihre Neugier darüber befriedigen, was ihre beiden Partner eigentlich in die Nervenheilanstalt verschlagen hatte.
    Grundsätzlich hatte sie vor, sich erst einmal damit vertraut zu machen, was allgemein in den Dossiers verzeichnet war, und wenn sie erst einmal eine klare Vorstellung davon hatte, welche Informationen bereits vorhanden waren, würde sie die Patienten befragen. Im Moment sah sie darin die einzig sinnvolle Vorgehensweise. Es befanden sich keinerlei physische Indizien in

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