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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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allein
, rief sie sich ins Gedächtnis
. Ich bin ganz und gar allein
.
    Sie biss die Zähne zusammen und achtete auf jedes zusätzliche Geräusch, während sie mit der Schulter die Tür zum zweiten Stock des Wohnheims aufschob. Ihr Zimmer – vormals Short Blonds Zimmer – grenzte direkt ans Treppenhaus. Dr. Gulptilil hatte ihr einen Schlüssel dazu gegeben, und sie setzte den Karton ab, um ihn aus der Tasche zu ziehen.
    Sie steckte ihn ins Schloss und hielt inne.
    Ihre Tür war nicht geschlossen. Sie öffnete sich vier, fünf Zentimeter weit, so dass sie einen Streifen Dunkelheit sah.
    Als stünde die Tür unter Strom, zuckte sie zurück und trat abrupt in den Flur.
    Sie schaute nach links und rechts und beugte sich ein wenig vor, um jemanden zu sehen oder irgendeinen verräterischen Laut zu hören, der ihr sagte, dass jemand in der Nähe war. Doch ihre Augen schienen auf einmal blind und ihre Ohren taub. Sie fragte rasch ihre sämtlichen Sinne ab und bekam von allen warnende Rückmeldungen.
    Lucy zögerte und wusste nicht, was sie machen sollte. In den drei Jahren, seit sie in der Staatsanwaltschaft des Suffolk County Sexualdelikte bearbeitete, war sie um einiges klüger geworden. Während sie schnell die Karriereleiter bis zur Position des
Assistant Chief
der Staatsanwaltschaft aufgestiegen war, hatte sie sich in einen Fall nach dem anderen gestürzt und unnachgiebig und minutiös die Einzelheiten aufbereitet. Die ständige Beschäftigung mit dem Verbrechen hatte in ihr eine Art täglichen Prüfmechanismus herausgebildet, der jede noch so kleine Tätigkeit in ihrem Dasein an der inneren Messlatte abmaß: Ist das hier vielleicht der kleine Fehler, den jemand für sich ausnutzen kann?
    Ganz allgemein gesprochen wusste sie zum Beispiel, dass sie nicht nachts allein über einen Parkplatz laufen oder die Haustür öffnen sollte, wenn es unerwartet klopfte. Es bedeutete auch, dass sie die Fenster geschlossen hielt und stets hellwach und auf der Hut war, und zuweilen, dass sie die Handfeuerwaffe, die sie mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft besaß, tatsächlich bei sich trug. Es bedeutete ebenfalls, dass sie die naiven Fehler, die sie eines schrecklichen Abends als Jurastudentin gemacht hatte, nie wiederholte.
    Sie biss sich auf die Unterlippe. Die Waffe war in einer Schatulle in ihrer Tasche in ihrem Zimmer weggeschlossen.
    Wieder lauschte sie und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass nichts Außergewöhnliches festzustellen war, während die irrationale Angst in ihr das Gegenteil nahe legte. Sie schob den Karton mit den Patientenakten sachte zur Seite. Die Stimme der Vorsicht gab keine Ruhe und ermahnte sie lautstark.
    Sie ignorierte sie und fasste nach dem Türgriff.
    Doch kaum hatte sie die Hand am Messingknauf, hielt sie inne.
    Wäre das Metall glühend heiß gewesen, hätte sie es nicht gemerkt.
    Sie atmete langsam aus und trat zurück.
    Sie führte Selbstgespräche, als könnte sie, indem sie das Tempo ihrer Überlegungen drosselte, ihren Argumenten mehr Gewicht verleihen:
Die Tür war abgeschlossen, und jetzt ist sie offen. Was nun?
    Lucy trat ein zweites Mal zurück. Dann drehte sie sich abrupt um und lief eilig den Flur entlang. Sie suchte ihre Umgebung ab und spitzte die Ohren, lief schnell über den Teppich, der das Geräusch ihrer Schritte dämpfte. Sämtliche anderen Räume auf dem Geschoss waren geschlossen und still. Sie erreichte heftig keuchend das Ende des Flurs und stürzte dann das Treppenhaus auf dieser Seite hinunter, so dass ihre Schuhe auf den Stufen einen Trommelwirbel verursachten. Das Treppenhaus entsprach genau demjenigen am anderen Ende, durch das eben erst jeder ihrer müden Schritte widergehallt hatte. Sie schob sich durch eine schwere Tür und hörte zum ersten Mal Stimmen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, näherte sie sich den menschlichen Lauten, bis sie auf drei junge Frauen stieß, die am Vordereingang zum ersten Stock standen. Alle trugen weiße Schwesterntracht unter bunten Strickjacken, und als Lucy auf sie zustürzte, sahen sie erstaunt auf.
    Lucy gestikulierte ein bisschen wild, rang nach Luft und sagte: »Entschuldigen Sie …«
    Die drei Lernschwestern starrten sie an.
    »Tut mir leid, so in Ihre Unterhaltung zu platzen«, sagte sie, »aber ich bin Lucy Jones, die Staatsanwältin, die hergeschickt wurde …«
    »Wir wissen, wer Sie sind, Miss Jones, und weshalb Sie hier sind«, sagte eine der Schwestern. Sie war eine große schwarze Frau mit athletischen, breiten

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