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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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den Engel nannten, verfügte dabei an beiden Schauplätzen über einige Fähigkeiten. Je mehr sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass sie jemanden finden musste, der sich draußen wie drinnen zurechtfand.
    Mit Entsetzen stellte sie fest, dass sie das Personal nicht ausklammern konnte. Hier ergab sich das Problem, den medizinischen Direktor dazu zu bringen, ihr die Personalakten zu überlassen, und sie bezweifelte, dass er dazu bereit war, solange sie ihm nicht gewisse Verdachtsmomente lieferte, dass theoretisch eine Schwester oder ein Pfleger an dem Verbrechen beteiligt gewesen sein konnte. Während sie neben dem kleinen indischen Arzt herlief, hörte sie ihm nicht wirklich zu, als er sich über die Vorzüge einer stationären Behandlung in Anstalten für Geisteskranke ausließ; vielmehr überlegte sie, wie sie weiter vorgehen konnte.
    Im späten Frühjahr herrscht in Neu-England eine abendliche Düsternis, als sei die Welt über den Wechsel von den nassen Wintermonaten zum Sommer unsicher. Warmer Wind aus südlichen Richtungen, der von höheren Luftströmungen Auftrieb bekommt, vermischt sich ständig mit Kaltluftströmen, die von Kanada herunterstürzen. Beide waren wie unerwünschte Immigranten, die nach einer neuen Heimat suchten. Ringsum nahm sie die Schatten wahr, die über das Klinikgelände krochen und unaufhaltsam jedes Heim erfassten. Sie fror und schwitzte zugleich, ein bisschen wie im Fieber, wenn man sich inmitten von Schweißausbrüchen die Decke bis unters Kinn hochzog.
    Auf den Listen, die nach und nach zu jedem Gebäude entstanden, hatte sie über zweihundert mögliche Verdächtige stehen, und sie machte sich Sorgen über die etwa hundert Namen, die sie vielleicht zu schnell gestrichen hatte. Sie schätzte, dass sie unter dem Personal noch einmal fünfundzwanzig bis dreißig Verdächtige zusammenbekommen würde, doch sie war noch nicht bereit, in dieser Richtung weiterzuarbeiten, weil sie wusste, dass sie sich damit den Chefarzt verärgern würde, auf dessen Hilfe sie vorerst angewiesen war.
    Als die beiden sich dem Amherst-Bau näherten, wurde ihr mit Schrecken bewusst, dass ihr von den Unterkünften, an denen sie vorbeigekommen waren, niemand nachgepfiffen oder gerufen hatte. Vielleicht hatte sie es auch nur überhört. Sie registrierte den Wandel und dachte unwillkürlich, wie schnell in der Welt der Klinik das Außergewöhnliche zur Routine wurde.
    »Ich hab mich ein bisschen in die Literatur eingelesen, die es zu dem Typ Verdächtigen gibt, nach dem Sie suchen«, sagte Dr. Gulptilil, als sie gerade über den Innenhof liefen.
    Ihre Schritte klickten auf dem schwarzen Asphalt des Gehwegs, und als Lucy aufsah, stellte sie fest, dass in dem Moment ein Mann vom Sicherheitsdienst die Eisengitter der Klinik für die Nacht zuschob.
    »Es ist interessant, wie wenig Fachliteratur sich mit diesem mörderischen Phänomen befasst. Leider nur sehr wenige Untersuchungen. Es gibt derzeit seitens der Polizei ein paar Versuche, eine Art Persönlichkeitsprofil zu erstellen, aber ansonsten wurden die psychologischen Implikationen, die Diagnose und die Behandlungspläne für diese Kategorie weitgehend vernachlässigt. In Psychiaterkreisen, müssen Sie verstehen, Miss Jones, vergeuden wir nicht gerne unsere Zeit mit Psychopathen.«
    »Und wieso nicht, Doktor?«
    »Weil sie behandlungsresistent sind.«
    »Grundsätzlich?«
    »Ja, grundsätzlich. Jedenfalls der klassische Psychopath. Er spricht nicht auf Antipsychotika an, im Unterschied zum Schizophrenen, oder auch jemandem mit Persönlichkeitsspaltung oder einem Zwangsneurotiker, einem klinisch Depressiven oder allen anderen Krankheitsbildern, für die wir Medikamente entwickelt haben. Ach so, ja, das heißt natürlich nicht, dass der Psychopath keine deutlich unterscheidbaren Krankheitssymptome aufwiese. Ganz im Gegenteil. Doch ihr Mangel an Menschlichkeit, so kann man das wohl am besten umschreiben, verweist sie in eine völlig andere Kategorie, und zwar eine, die wir noch nicht gut verstehen. Sie trotzen jeder Therapie, Miss Jones. Sie sind unehrlich, manipulativ, oft auffällig großspurig und äußerst verführerisch. Sie folgen einzig ihren ungezügelten Impulsen, ohne sich im Mindesten um Konventionen oder Moralvorstellungen zu scheren. Beängstigend, muss ich wohl dazu sagen. Sehr verunsichernde Persönlichkeiten, wenn man mit ihnen in Berührung kommt. Der scharfsinnige Psychiater Hervey Cleckley hat ein interessantes Buch mit Fallstudien

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