Die Anstalt
gehört, dass bis dahin irgendwann mal die Tür nicht abgeschlossen gewesen war. Nein, du kannst nicht raus. Niemand. Ich hab auch noch nie gehört, dass irgendjemand das Bedürfnis dazu gehabt hätte.«
»Irgendjemand konnte es und hat es getan. Und er wollte es auch. Jemand hatte einen Satz Schlüssel.«
Napoleon sah ihn entsetzt an. »Ein Patient hat einen Satz Schlüssel«, flüsterte er. »Das hör ich zum ersten Mal.«
»Davon gehe ich aus«, sagte Francis.
»Das wäre nicht richtig, C-Bird. Wir dürfen keine Schlüssel haben.« Napoleon verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als wäre ihm der Boden unter seinen ausgefransten Hausschuhen auf einmal zu heiß. »Ich denke, wenn man erst mal rauskommt, ich meine, aus dem Gebäude, müsste es ziemlich leicht sein, an der Patrouille des Sicherheitsdienstes vorbeizukommen. Ich meine, die sind nicht gerade die Hellsten, oder? Und ich glaube, sie müssen an jeweils derselben Stelle die Uhr stechen, jede Nacht genau zur selben Zeit, also, ich denke, selbst jemand, der so verrückt ist wie wir, müsste es eigentlich schaffen, ihnen zu entwischen, mit ein bisschen Planung …« Er kicherte ein wenig und hätte angesichts seiner kühnen These, dass die Leute vom Wachdienst inkompetent seien, beinahe laut losgeprustet. Doch dann runzelte er die Stirn. »Aber da liegt nicht das eigentliche Problem, was, C-Bird?«
»Wo liegt es deiner Meinung nach denn?«, fragte Francis.
»Wieder reinzukommen. Selbst wenn du Schlüssel hast, also, der Haupteingang befindet sich direkt gegenüber der Pflegestation. Das ist in allen Stationen so, nicht wahr? Und selbst wenn die Schwester oder der diensthabende Pfleger gerade ein Nickerchen halten würde, würde er von dem Geräusch, wenn die Tür aufgeht, vermutlich aufwachen.«
»Was ist mit den Notausgängen an den Seiten des Gebäudes?«
»Ich glaube, die sind vergittert und vernagelt.«
Er schüttelte den Kopf. »Vermutlich ein Verstoß gegen die Brandschutzverordnung«, fügte er hinzu. »Wir sollten Peter fragen. Ich möchte wetten, er weiß das.«
»Vermutlich. Aber trotzdem, du meinst, selbst wenn du es wolltest, wäre es nicht möglich?«
»Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit. Nur dass ich in der ganzen Zeit, seit ich hier bin, noch von keiner gehört habe. Und genauso wenig hab ich je von einem gehört, der von einem Bau in den anderen gewollt hätte, C-Bird. Nicht ein Mal. Wieso auch, wenn wir alles, was wir uns wünschen und was wir brauchen und womit wir überhaupt etwas anfangen können, hier in diesem Bau direkt vor der Nase haben?«
Das war eine deprimierende Frage, fand Francis. Und es stimmte auch nicht, denn es gab jemanden unter ihnen, der andere Bedürfnisse hatte als die, von denen Napoleon sprach. Und das erste Mal wohl stellte sich Francis die Frage, was genau der Engel nötig hatte.
Peter entdeckte den Wartungsmonteur, als wir den Tagesraum verließen. Später habe ich mich gefragt, ob es einen Unterschied gemacht hätte, wenn wir gesehen hätten, was genau er dort zu tun hatte, doch wir waren auf dem Weg zu Lucy, und das hatte für uns immer absolute Priorität. Später brachte ich Stunden, vielleicht Tage damit zu, einfach über das Zusammenspiel von allem nachzudenken – als ob dieses oder jenes anders gelaufen wäre, falls einer von uns begriffen hätte, wie die Dinge zusammenhingen und wie wichtig diese Verbindungen waren. Zuweilen kann man Geisteskrankheit daran festmachen, dass sich jemand fixiert, dass er sich in eine einzige Idee verbohrt. Lankys Obsession mit dem Bösen. Peters Bedürfnis nach Absolution. Lucys Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Die beiden waren natürlich nicht verrückt, jedenfalls nicht das, was ich darunter verstand, oder auch Gulp-a-pill oder meinetwegen auch Mr. Evil. Doch auf eigentümliche Weise können derart starke Bedürfnisse sich zu einer Form von Wahn auswachsen, mit dem einzigen Unterschied, dass sie nicht so leicht zu diagnostizieren sind wie meine Störung. Dennoch hätte der Anblick des Wartungsmannes, eines Burschen im mittleren Alter, mit Ringen unter den Augen, in seinem grauen Hemd und der passenden Hose dazu, den festen braunen Arbeitsstiefeln, dem dunklen, mit hellen Drecksträhnen durchzogenen Haar und den schwarzen Ölflecken an den Sachen auf eine ganz eigentümliche, untergründige Weise unsere Aufmerksamkeit erregen müssen. Er hatte seinen Werkzeugkasten aus Holz in einer schmierigen Hand, und an seinem Gürtel hing ein
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