Die Anstalt
ihrem Besitz – auch wenn sie wusste, dass es solche konkreten Beweise irgendwo gab. Ein Messer beziehungsweise ein anderer sehr scharfer Gegenstand wie etwa eine aus einem Löffel angefertigte Waffe oder ein Satz rasierklingenscharfer Taschenmesser, vermutete sie. Was es auch war, der Täter hatte es gut versteckt. Es musste auch noch weitere blutige Kleider geben, vielleicht auch einen Schuh, an dem immer noch das Blut der Krankenschwester klebte. Und irgendwo die vier fehlenden Fingerspitzen.
Sie hatte die Detectives angerufen, die Lanky verhaftet hatten, und sie danach gefragt. Ihre Kooperationsbereitschaft war gleich null gewesen. Einer von ihnen glaubte, er hätte sie abgeschnitten, um sie anschließend in der Toilette hinunterzuspülen. In ihren Augen viel Aufwand ohne erkennbaren Sinn und Zweck. Der andere erging sich in vagen Andeutungen, Lanky hätte sie sich vielleicht einverleibt. »Schließlich«, begründete der Detective seine kühne Theorie, »ist der Bursche nun mal total bekloppt.«
Sie legten, stellte Lucy fest, kein sonderliches Interesse an den Tag, irgendwelche anderen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. »Kommen Sie schon, Miss Jones«, hatte der erste Detective gesagt, »wir haben den Kerl, und genug für eine Anklage in der Hand, außer der Tatsache, dass wir es mit einem Irren zu tun haben.«
Der Karton mit den Akten war schwer, und sie balancierte ihn auf dem Knie, während sie die Seitentür zum Schlaftrakt öffnete. Bis jetzt hatte sie noch keinen klaren Anhaltspunkt für ein auffälliges Verhalten gefunden, das eine eingehendere Überprüfung nahe legte. In der Klinik war jeder auffällig. Es war eine Welt, in der die gewöhnlichen Gesetze der Vernunft außer Kraft gesetzt waren. Außerhalb der Anstalt hätte es irgendeinen Nachbarn gegeben, dem etwas Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Oder einen Kollegen in einem Büro, dem etwas nicht ganz geheuer wäre. Vielleicht einen Angehörigen, der ein paar bohrende Zweifel hegte.
Das war hier nicht der Fall, sagte sie sich. Sie musste neue Wege beschreiten. Es ging darum, den Killer auszutricksen, der, wie sie glaubte, sich in der Klinik versteckt hielt. Bei dem Spiel traute sie sich einiges zu. Gar so schwierig, dachte sie, konnte es eigentlich nicht sein, einen Verrückten auszumanövrieren. Oder auch einen, der den Verrückten spielte. Blieb allerdings das Problem, stellte sie nüchtern fest, die Spielregeln zu definieren.
Waren die erst einmal bekannt, dachte sie, während sie sich langsam Schritt für Schritt die steile Treppe hochquälte und sich so erschöpft fühlte wie nach einer langen, schwächenden Krankheit, würde sie gewinnen. Man hatte ihr beigebracht, dass alle Ermittlungen letztlich auf ein und dasselbe hinausliefen – eine vorhersagbare Standardszene auf einer klar umrissenen Bühne. Das stimmte, wenn man bei einer steuerhinterziehenden Firma die Bücher überprüfte oder einen Bankräuber stellte, einen Kinderpornographen oder einen Betrüger. Ein Teilstück fügte sich zum anderen und dann zu einem dritten, bis alles oder zumindest ein genügend großes Stück des Puzzles sichtbar wurde. Gescheiterte Ermittlungen – die sie bis dato noch nicht mitzuverantworten hatte – gingen darauf zurück, dass zufälligerweise eines dieser Bindeglieder verborgen blieb oder absichtlich verdunkelt wurde und jemand daraus Kapital schlug. Sie atmete einmal kräftig durch und zuckte die Schultern. Es war von entscheidender Bedeutung, sagte sie sich, dass sie auf den Mann, den inzwischen alle den Engel nannten, so viel Druck ausübte, dass ihm Fehler unterliefen.
Er würde Fehler machen, sagte sie sich kalt.
Als Erstes musste sie die Akten nach kleineren Gewalttaten durchforsten. Sie hielt es für unmöglich, dass ein Mann, der solcher Morde fähig war, seine Aggressionsneigung vollkommen verbergen konnte, selbst wenn er in der Klinik lebte. Es muss irgendwelche Anzeichen geben, sagte sie sich. Einen Wutanfall. Eine Drohung. Einen Ausbruch. Sie musste nur darauf achten, dass sie es auch erkannte, sobald sie dergleichen vor Augen hatte. In der abgeschlossenen Welt der Nervenheilanstalt musste irgendjemand irgendetwas aufweisen, das nicht in das akzeptable Verhaltensschema passte.
Ebenso sicher war sie sich, dass sie, sobald sie anfing, Fragen zu stellen, auch die Antworten sehen würde. Lucy hatte ein gesundes Selbstvertrauen, wenn es darum ging, sich im Kreuzverhör zur Wahrheit durchzuarbeiten. In diesem Moment bedachte sie
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