Die Antikriegs-Maschine
und sie hatte ihm geglaubt. Als sie beide auf dem Tiefpunkt ihrer Verzweiflung angelangt waren, hatte sie plötzlich begonnen, ihm wieder zu glauben. Und jetzt kam er in der Abenddämmerung zu ihr zurück und brachte so viele Sorgen mit, wie zwei Menschen gerade noch ertragen konnten.
Hutchman tastete nach dem weißen Briefumschlag in seiner Tasche. Sollte er Vicky zeigen, was darin war? Zumindest eine andere, noch lebende Person hatte seine Arbeit gesehen, warum also nicht auch Vicky? Würde sie das überzeugen? Würde das irgend etwas ändern? Durfte er riskieren, sie bis zu diesem Grad einzuweihen – und das ausgerechnet in dem Augenblick, in dem die von ihm ausgelöste Kettenreaktion superkritisch zu werden drohte? Die Detonation war unaufhaltsam, und er würde sich in ihrem Mittelpunkt befinden. Er war der Zielpunkt.
Das Haus mit seinem warmen Lichtschein hinter kahlen Pappeln wirkte friedlich. Hutchman stellte seinen Wagen ab, blieb einen Augenblick draußen stehen, weil er sich nicht hineinwagte, und betrat das Haus dann durch den Nebeneingang. Es war hellbeleuchtet, aber leer. Hutchman ging ins Wohnzimmer, wo er einen Zettel mit Vickys Handschrift auf dem Kaminsims fand. Er las: »Die Polizei war hier. Mehrere Reporter haben angerufen. Und ich habe die Meldung im Radio gehört. Ich hatte gehofft, ich hätte dich falsch beurteilt. Ich nehme David mit. Diesmal – und ich bin bei klarem Verstand – ist es endgültig aus. V. H.«
»Wie schön für dich, alte V. H.«, sagte Hutchman laut. »Du hast auch das Richtige getan.«
Er setzte sich und sah sich langsam um, ohne sagen zu können, warum er das tat. Nichts, was er hier sah, war in irgendeiner Beziehung wichtig. Die Wände, Möbelstücke und Bilder waren irreal geworden; sie waren Kulissen, zwischen denen drei Menschen eine Zeitlang die ihnen zugewiesenen Rollen gespielt hatten. Hutchman war sich plötzlich darüber im klaren, daß er seine eigene Rolle über das Ende des Stücks hinaus künstlich zu verlängern versuchte.
Er stand auf und ging in sein Arbeitszimmer. Dort lagen noch über hundert Umschläge bereit – auch die für England –, die er zukleben, adressieren und frankieren mußte. Er stürzte sich auf die mechanische Aufgabe, als könnte er dadurch vergessen, was ihn bedrückte. Dieser Versuch war teilweise erfolgreich, aber zwischendurch kamen immer wieder andere Gedanken an die Oberfläche seines Bewußtseins.
Meine Frau und mein Kind haben mich verlassen.
Heute habe ich einen Mann ermordet. Ich habe bei der Vernehmung gelogen, und die Polizei hat mich nicht verhaftet, aber ich weiß, daß ich es getan habe. Ich wollte es nicht tun, aber es ist passiert. Ich habe ein menschliches Leben beendet!
Die Nachricht von meiner Maschine breitet sich über die ganze Welt aus. Die Informationswelle wird bald die Grenzen ihres Systems erreichen und dann ihre Richtung umkehren. Ich befinde mich im Mittelpunkt. Ich bin der Mann im Zielpunkt, und mir werden schreckliche Dinge zustoßen.
Meine Frau und mein Kind haben mich verlassen…
Als Hutchman fertig war und die Briefe in ordentlichen Stapeln vor sich liegen hatte, sah er sich verwirrt um und erkannte, daß er selbst für sein Überleben verantwortlich war. Ihm fiel ein, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, aber er konnte sich nicht aufraffen, in die Küche an den Kühlschrank zu gehen. Das einzig Sinnvolle, was ihm im Augenblick einfiel, war eine Fahrt nach London, wo er einen Packen Briefe aufgeben konnte. Ausgerechnet jetzt, wo es darauf ankam, unauffällig zu bleiben, war sein Name in die Schlagzeilen geraten, aber es lohnte sich trotzdem noch, die Spur des Absenders dieser Briefe zu verwischen. Die Polizei wußte, daß er in einen merkwürdigen Unfall verwickelt gewesen war – aber sie hatte keinen Grund zu der Vermutung, er könnte mit dem Gesuchten identisch sein, nach dem im ganzen Land gefahndet werden würde, sobald der erste Brief Whitehall erreichte. Andrea hatte halbwegs damit gedroht, der Polizei alles zu erzählen, was sie wußte, aber in Wirklichkeit wollte sie nichts mehr mit der ganzen Sache zu tun haben. Von ihr drohte ihm keine Gefahr.
Hutchman holte den kleinen Koffer aus dem Auto und füllte ihn wieder mit Umschlägen. Er schaltete alle Lampen aus, trat ins Freie, wo der Wind den leichten Regen vor sich hertrieb, und schloß die Haustür ab. Die Macht der Gewohnheit, dachte er. Was gibt’s hier schon zu stehlen? Er stellte den Koffer auf den
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