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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sehen. Er verfolge ein Geschehen, das er nicht verstand, hinter dem jedoch eine Antwort existierte.
    Zum dritten-, vierten-, fünftenmal richtete sich der Schläfer auf, packte die Decke, stellte den rechten Fuß auf den Boden, warf.
    Jonas ging nach nebenan. Er betrachtete das Bett. Legte sich hinein. Erhob sich, packte die Decke, warf sie.
    Er empfand nichts. Er hatte den Eindruck, es das erstemal zu tun. Er spürte nichts Fremdartiges. Eine Decke. Er warf sie. Aber warum?
    Er ging zur Wand und betrachtete die Stelle, an der der Schläfer gedrückt hatte. Er klopfte. Es klang dumpf. Kein Hohlraum.
    Er lehnte sich an die Wand. Die Hände in den Ärmeln des Frotteebademantels vergraben, die Arme vor der Brust verschränkt, dachte er nach.
    Das Verhalten des Schläfers war absonderlich. Steckte mehr dahinter? War er nicht als Kind oft schlafgewandelt? War es nicht einleuchtend, daß er in dieser außergewöhnlichen Situation wieder damit begann? Vielleicht hatte er schon früher dann und wann im Schlaf, von Marie unbemerkt, seltsame Ausflüge unternommen.
    Im Wohnzimmer schrie jemand.
    Es war nicht so sehr Erschrecken, das ihn durchzuckte. Unglaube war es, Staunen. Ein Gefühl von Ohnmacht angesichts einer Art neuen Naturgesetzes, das er nicht verstand und dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
    Noch ein Schrei ertönte.
    Er ging hinüber.
    Zunächst begriff er nicht, woher die Schreie kamen.
    Sie drangen aus dem Fernseher. Der Bildschirm war dunkel.
    Die Schreie klangen spitz, nach Furcht und Schmerz, als würde jemand mit Nadeln gefoltert. Als würde sein Körper kurz einer Qual ausgesetzt und dann wieder für einige Sekunden geschont.
    Der nächste Schrei. Er war laut, scharf. Es klang nicht nach Spaß. Es klang nach fürchterlichen Vorgängen.
    Er spulte vor. Schreie. Spulte weiter. Schreie. Spulte ans Ende des Bandes. Röcheln, Stöhnen, ab und zu ein Schrei.
    Er ließ die Kassette bis zu jener Stelle zurücklaufen, an der der Schläfer aufstand und die Decke über die Kamera warf. Er forschte in seinem Gesicht. Er versuchte, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, was ihm bevorstand. Er sah nichts. Der Schläfer schleuderte die Decke, die Kamera fiel um, der Bildschirm wurde dunkel.
    Dunkel, nicht schwarz. Jetzt merkte er es. Die Kassette war weitergelaufen, aber eben blind. Er hatte gesehen, wie sich der Bildschirm verdunkelte, und automatisch die Möglichkeit ausgeschlossen, daß das Band weiter aufzeichnete.
    Die ersten Schreie ertönten zehn Minuten nach dem Sturz der Kamera. Davor waren keinerlei Geräusche zu hören. Keine Schritte. Kein Klopfen. Keine fremden Stimmen.
    Nach zehn Minuten der erste. Als würde dem Opfer ein spitzes Eisen ins Fleisch fahren. Es war ein plötzlicher Schrei, dem man anhörte, daß ihm weniger Schmerz denn Entsetzen zugrunde lag.
    Er rannte ins Schlafzimmer und fuhr aus dem Bademantel. Vor dem Wandspiegel drehte er sich, machte Verrenkungen, hob die Füße, um die Sohlen zu kontrollieren. Seine Gelenke knackten. Wunden sah er keine. Keine Schnitte, keine Nähte, keine Verbrennungen. Nicht einmal einen blauen Fleck.
    Er ging dicht an den Spiegel heran. Er streckte die Zunge heraus. Sie war nicht belegt. Verletzungen waren keine zu entdecken. Er zog die Unterlider hinunter. Die Augen waren gerötet.
    Er gönnte sich auf der Couch ein paar Minuten mit den stummen Tänzen der Berliner Love Parade. Er aß Eis. Er schenkte sich Whisky ein. Nicht zuviel. Er mußte nüchtern bleiben. Klar mußte er bleiben.
    Er bereitete die Kamera für die Nacht vor. In der Aufregung hatte er vergessen, wie man die Zeitschaltung aktivierte. Es an diesem Abend noch einmal nachzulesen, war er zu müde. Er begnügte sich mit der normalen Aufzeichnung von drei Stunden.
    Er drückte die Klinke der Wohnungstür. Abgesperrt.

11
    Die Kamera stand an ihrem Platz.
    Er blickte sich um. Nichts schien sich verändert zu haben.
    Er warf die Decke ab. Er war unverletzt.
    Er lief zum Spiegel. Auch sein Gesicht schien unversehrt.
    Den Baumarkt in der Adalbert-Stifter-Straße kannte er schon gut. Er fuhr den Spider in die Halle, bis der Gang zu eng wurde. Zu Fuß machte er sich auf die Suche. Taschenlampe und Handschuhe fand er gleich. Länger brauchte er für den Möbelschlitten. Forsch lief er durch die stille Halle. Eine halbe Stunde dauerte es, bis er auf die Idee kam, es anstatt beim Verkauf hinten im Lager zu versuchen. Es gab Schlitten zu Dutzenden. Er lud einen in den Kofferraum.
    Kreuz und quer fuhr er durch den

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