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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ihrer Vorliebe für Lehrstücke in seiner Kindheit erzählt hatte.
    Ein Mädchen sitzt weinend im Wald. Eine Fee erscheint, fragt nach dem Grund. Das Mädchen antwortet, es habe die Tonsammlung seines Vaters zerbrochen und fürchte nun die Strafe. Die Fee gibt dem Mädchen eine Garnspule. Zieht man daran, geht die Zeit schneller vorbei. Einige Zentimeter bedeuten einige Tage. Vorsicht sei also geboten. Doch wenn das Mädchen dem Gezeter und den Prügeln und dem Schmerz zu entgehen trachte, solle es sich mit dem Garn behelfen.
    Das Mädchen ist mißtrauisch. Dann kommt es zum Schluß, es habe nichts zu verlieren, und zieht. Im nächsten Moment befindet es sich auf dem Weg zur Schule, deren Sommerpause erst in einigen Wochen zu Ende hätte gehen sollen. »Das ist ja fein«, sagt das Mädchen, »so habe ich mir den Stock erspart.«
    Es entdeckt eine Narbe am Knie, deren Herkunft rätselhaft bleibt. Zu Hause sieht es später im Spiegel die langsam verblassenden Striemen auf dem Rücken.
    Von da an zieht es oft am Garn. So oft, daß es, ehe es sich versieht, alt ist, das Mädchen. Es sitzt weinend im Wald, dort, wo alles begonnen hat, unter einer großen Trauerweide, die im Wind rauscht. Die Fee erscheint. Das alte Mädchen klagt, es hat sein Leben vergeudet, es hat zu oft gezogen und auf diese Weise gar nichts erlebt. Jung sollte es noch sein, aber es ist schon alt.
    Die Fee hebt mahnend den Finger – und macht alles rückgängig. Das Mädchen sitzt wieder als kleines Mädchen im Wald. Doch es fürchtete sich nicht mehr vor der Strafe, es läuft singend nach Hause und läßt sich freudig vom Vater verprügeln.
    Für Jonas’ Mutter stand die Moral der Geschichte außer Streit. Man mußte sich auch den dunklen Stunden stellen. Sie und vor allem sie machten den Menschen zu dem, was er war. Ihm hingegen war die Wahrheit in der Geschichte keineswegs so klar erschienen. Folgte man Mutters Argumentation, würde sich jeder einer Operation ohne Narkose unterziehen müssen. Und daß das Mädchen plötzlich alt im Wald saß, konnte er nicht als Resultat einer Fehleinschätzung des Mädchens interpretieren. Es warf eine andere Frage auf: Was für ein gräßliches, an Prügeln und Mißgeschicken reiches Leben mußte die Kleine gehabt haben, daß sie so häufig an ihrer Garnspule zog?
    Seine Mutter, sein Vater, die Lehrerin in der Schule, die die Geschichte auch einmal erzählte, sie alle schienen das Verhalten der Kleinen nur töricht zu finden. Daß sie ihr Leben wegwarf, es wegspulte, nur um ein paar unangenehmen Momenten zu entfliehen. Niemand machte sich die Mühe zu fragen, ob die Kleine nicht doch richtig gehandelt hatte. Für Jonas schien alles nachvollziehbar. Sie hatte die Hölle auf Erden erlebt und mit vollem Recht an ihrer Spule gezogen. Nun, im Alter, redete sie sich eben die Vergangenheit schön, wie das alle taten. Sie würde ihre Wunder erleben, wenn sie von vorne anfing.
    Seine Mutter hatte diesen Gedankengang nicht verstanden.
    Das Wasser war lau. Der Elefant zergangen.
    Ohne sich abzuspülen, schlüpfte Jonas in den Bademantel. Im Kühlschrank fand er drei Bananen, deren Schalen schon dunkelbraun waren. Er schälte sie, zerdrückte sie in einer Schüssel, gab eine Prise braunen Zucker dazu. Setzte sich vor den Fernseher. Aß.
    Der Schläfer ging an der Kamera vorbei, legte sich ins Bett, deckte sich zu.
    Der Schläfer schnarchte.
    Jonas erinnerte sich, wie oft ihm Marie sein Schnarchen vorgeworfen hatte. Er säge die halbe Nacht, sie könne kaum schlafen. Er hatte es bestritten. Alle Menschen leugneten zu schnarchen. Obwohl niemand wissen konnte, was er im Schlaf tat.
    Der Schläfer drehte sich um. Schnarchte weiter.
    Jonas spähte durch die Jalousien nach draußen. Das Fenster in der Wohnung, die er vor Wochen besucht hatte, war erleuchtet. Er trank einen Schluck Orangensaft, prostete dem Fenster zu. Er rieb sich über das Gesicht.
    Der Schläfer richtete sich auf. Ohne die Augen zu öffnen, packte er die zweite Bettdecke und schleuderte sie auf die Kamera. Der Bildschirm wurde dunkel.
    Jonas spulte zurück und drückte auf Wiedergabe.
    Das Band lief seit einer Stunde und einundfünfzig Minuten, als der Schläfer unter seiner Decke hervorkroch. Seine Augen blieben geschlossen. Die Gesichtszüge waren entspannt. Dennoch konnte sich Jonas nicht von dem Gefühl freimachen, der Schläfer wisse genau, was er da tat. Sei sich in jeder Sekunde seines Handelns bewußt, und Jonas sehe etwas, ohne das Wesentliche zu

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