Die Arbeit der Nacht
auf dem alten Parkett hallten durch die Räume.
Der Weg führte von der Oberen Donaustraße hinein zum Gaußplatz und von dort in die Klosterneuburger Straße, die in die Brigittenauer Lände mündete. Die vorletzte Kamera sollte von Norden die Kreuzung der Klosterneuburger mit der Adalbert-Stifter-Straße filmen. Die letzte war zugleich Kamera 1: Sie würde er in der Brigittenauer Lände aufstellen, fünfzig Meter nach seiner Haustür in Richtung Heiligenstädter Brücke.
Er klappte das Notizheft zu. Er hatte Hunger. Er machte einige Schritte auf die Haustür zu. Drehte wieder um.
Etwas war ihm nicht geheuer.
Er setzte sich in den Wagen, verriegelte die Türen.
Beim Vorbeifahren bemerkte er, daß eine Haustür offenstand. Er setzte zurück. Es war der Eingang zum Gasthaus Haas in der Margaretenstraße.
»Kommen Sie heraus!«
Er wartete eine Minute. Währenddessen prägte er sich die Details des Straßenbilds ein.
Er betrat das Gasthaus, durchsuchte vorsichtig die Räume. Dabei erinnerte er sich, daß er einmal hiergewesen war, mit Marie. Es lag Jahre zurück. Das Essen war nicht besonders und die Gaststube überfüllt. Am Nebentisch belästigte sie eine Runde betrunkener Turffreunde mit viel Gold an Hals und Handgelenk, die lautstark über die Aussichten verschiedener Traber diskutierten, wobei einer den anderen zu übertrumpfen suchte, indem er mit prominenten Bekanntschaften prahlte.
Ein Freund mit kynologischem Interesse hatte Jonas einmal erklärt, warum manch kleiner Hund ungeachtet des Risikos auf einen viel mächtigeren Artgenossen losging. Dem lag Verzüchtung zugrunde. Die Rasse des Hundes war einst eine weit größere gewesen. Im Bewußtsein des Hundes hatte sich noch nicht festgesetzt, daß er von der Schulter bis zur Pfote nicht mehr neunzig Zentimeter maß. Der kleine Hund glaubte gewissermaßen, so groß zu sein wie der andere, und ging ohne Rücksicht auf Verluste gegen diesen vor.
Jonas hatte nicht erraten, ob diese Theorie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußte oder ob sein Freund geflunkert hatte. Aber eine Erkenntnis war ihm gekommen: Mit den Österreichern verhielt es sich genau wie mit diesen Hunden.
Als er durch die halb ausgeräumte Wohnung ging, bekam er Lust weiterzuarbeiten. Er fühlte sich gut, er hatte keine Beschwerden, es sprach nichts dagegen.
Er holte den Schlitten aus dem Lastwagen. Mit leichteren Stücken begann er. Einer Wäschetruhe, einer Stehlampe, dem letzten verbliebenen Regal. Er kam schnell voran. Er schwitzte, doch sein Atem ging kaum schneller als sonst. Wäschetrockner, Fernseher, Couchtisch, Nachtkästchen, alles verschwand nach und nach im Lkw. Zuletzt blieben nur noch das Bett und der Kleiderschrank.
Mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt, betrachtete er den Schrank. Mit diesem Stück verband er viele Erinnerungen. Er kannte das Knarren, das zu hören war, wenn man den linken Türflügel öffnete, und das eine ganze Tonleiter von oben nach unten durchlief. Er wußte, wie es im Inneren roch. Nach Leder, nach frischer Wäsche. Nach seinen Eltern. Seinem Vater. Jahrelang war er, wenn er krank war, tagsüber auf dem Sofa neben diesem Schrank gelegen, weil seine Mutter nicht ins Schlafzimmer laufen wollte, um ihm Tee und Zwieback zu bringen. Bestimmt waren noch Spuren aus dieser Zeit zu entdecken.
In der Deckenlampe steckte eine Energiesparbirne. Das Licht war zu düster, um viel zu erkennen. Er holte die Taschenlampe und leuchtete auf die Seitenwand des Schranks. Deutlich waren die Schnitzereien im hellen Holz auszumachen. Eckige Zahlen und Buchstaben, mit einem Taschenmesser eingeritzt.
8 . 4 . 1977. Bauchweh. Mutti Hut. Gelb. 22 . 11 . 1978 . 23 . 11 . 1978 . 4 . 3 . 1979 . Grippe. Tee. Auto Fittipaldi geschenkt. 12 . 6 . 1979 . 13. 6 . 1979 . 15 . 6 . 1979 . 21 . 2 . 1980 Skifliegen.
Noch ein Dutzend weiterer Daten stand da. Manche mit Kommentaren versehen, manche ohne jede Erläuterung. Er wunderte sich, daß sein Vater diese Inschriften nicht vernichtet hatte. Vielleicht hatte er sie nicht bemerkt, vielleicht die Kosten für die Restaurierung gescheut. Er hatte nie gern Geld ausgegeben.
Jonas versuchte sich in den Jungen einzufühlen, der er damals gewesen war.
Er lag hier. Ihm war langweilig. Er durfte nichts lesen, denn Lesen strengte an. Er durfte nicht fernsehen, denn der Fernseher sandte Strahlen aus, denen gerade ein pflegebedürftiges Kind nicht ausgesetzt werden sollte. Er lag da mit dem Legospielzeug und den Murmeln und dem
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