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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Tachometernadel auf 170, kurz vor der Roßauer Kaserne auf 200. Die Gebäude am Straßenrand waren nur noch Schemen. Tauchten auf, waren da, doch ihrer bewußt wurde er sich erst, als er sie schon hinter sich gelassen hatte.
    Am Schottenring mußte er vom Gas gehen, um nicht aus der Kurve zu schleudern und in den Donaukanal zu fliegen. Mit 140 fuhr er Richtung Schwedenplatz, bremste im letzten Moment und trieb den Wagen über die Brücke. Sein Herz pumpte das Blut so wild durch den Körper, daß ihn ein stechender Schmerz hinter der Stirn zu quälen begann. Sein Magen krampfte sich zusammen, seine Arme zuckten. Schweiß rann ihm über das Gesicht, und er atmete nur noch stoßweise.
    Hier mehr Kurven, also kein Vollgas, lautete die Nachricht, die ihm der vernünftige Teil seines Unterbewußtseins sandte.
    Er schaltete hoch und trat aufs Gas.
    Zweimal war er kurz davor, die Herrschaft über den Wagen zu verlieren. Er hatte das Gefühl, alles in Zeitlupe ablaufen zu sehen. Dabei fühlte er nichts. Erst im Moment danach, wenn er den Wagen zurück auf die Spur gebracht hatte, schien etwas in ihm zu zerreißen. Verzweifelt stieg er noch fester aufs Gas. Er war sich vollkommen bewußt, daß er eine Grenze überschritten hatte, aber er war machtlos. Er konnte noch zusehen, und er war gespannt, was er als nächstes tun würde.
    Mit der Stelle, an der sich Lände und Obere Donaustraße teilten, hatte er sich eingehend befaßt. Um keinen Unfall im Kreisverkehr am Gaußplatz zu riskieren, durfte er an der Kreuzung davor nicht schneller als 100 fahren. Als er nun die Ampel passierte, warf er einen Blick auf den Tachometer. 120.
    Für eine Sekunde trat er das Gas voll durch. Dann stemmte er den Fuß mit aller Kraft gegen das Bremspedal. Dem Fahrtechnikkurs entsprechend, den er beim Bundesheer absolviert hatte, sollte er jetzt »pumpen«, also den Fuß heben und dann gleich wieder fest auf das Pedal setzen, und dieses Manöver so oft wie möglich wiederholen. Die Fliehkräfte und ein Muskelkrampf verhinderten, daß er das Bein anwinkeln konnte. Er streifte ein geparktes Auto. Der Spider schlingerte. Jonas verriß das Lenkrad. Er fühlte einen heftigen Schlag, gleichzeitig hörte er ein Krachen. Der Wagen wurde herumgewirbelt.
    Jonas wischte sich über das Gesicht.
    Er schaute nach links und rechts.
    Er hustete. Zog die Handbremse. Er löste den Sicherheitsgurt. Er drückte den Knopf der Türverriegelung. Er wollte aussteigen, doch die Tür war versperrt.
    Sich vorbeugend registrierte er, daß er auf den Straßenbahnschienen im Kreisverkehr stand. Die Uhr an den Armaturen zeigte zwölf nach drei an.
    Seine Finger zitterten, als er einen eingetrockneten Saucefleck von seiner Hose kratzte. Er schnallte sich an, fuhr in die Klosterneuburger Straße ein.
    Als er am Brigittenauer Hallenbad vorbeikam, entschied er sich, die ganze Fahrt zu wiederholen. Er gab Gas. Es gelang ihm jedoch nicht, die Geschwindigkeit zu erreichen, mit der er die betreffenden Stellen beim erstenmal durchfahren hatte. Daran war nicht das Auto schuld. Seine Aggressivität war gewichen, er fühlte sich benommen. Zu rasen bereitete ihm keine Freude. 100 genügten auch, fand er.
    Nachdem er in gemächlicherem Tempo ein zweites Mal den Donaukanal zwischen Heiligenstadt und dem Zentrum umfahren hatte, machte er sich daran, die Kameras einzusammeln, die mit Nummern versehen waren, damit er später mit den Kassetten nicht durcheinanderkam. Beim Aussteigen in der Brigittenauer Lände, wo er die beiden Kameras aus der Balkonwohnung holen wollte, stolperte er. Nur ein Müllcontainer, an den er sich im letzten Moment stützte, verhinderte einen Sturz.
    Er umrundete den Wagen. Rechts hinten war das Rücklicht kaputt. Die linke Hinterseite war eingedellt. Die schlimmsten Schäden hatte die Front abbekommen. Ein Teil der Motorhaube war abgerissen, die Scheinwerfer waren zertrümmert.
    Mit Wattebeinen schleppte er sich zum Haustor. Er nahm den Lift. Auf eine Kontrolle der Kameras verzichtete er. Er drückte die Stopptaste und schaltete das Gerät aus.
    Als er die tropfende Gans aus der Schüssel hob und auf das Arbeitsbrett legte, fiel ihm ein, daß der Airbag beim Unfall nicht aufgegangen war. Er war sich nicht sicher, ob er sich an alle Details korrekt erinnerte, doch der Zustand des Autos sagte ihm genug. Mit Gewißheit hatte es einen Anprall gegeben. Der den Airbag hätte aktivieren müssen.
    Rückrufaktion, ging ihm durch den Kopf. Er mußte lachen.
    Er stellte Salz,

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