Die Arbeit der Nacht
schußbereit halten. Er ging langsam. Da und dort erhellte ein beleuchtetes Fenster ein paar Meter der Straße.
Er konnte sich nicht von der Vorstellung befreien, hinter den geparkten Autos warte jemand. Er blieb stehen. Er hörte nur seinen zitternden Atem.
In seiner Vorstellung saß hinter dem Van, der an jener Ecke geparkt war, eine Frau. Sie trug eine Art Haube, wie sie Nonnen aufsetzten. Sie war in ein farbloses weites Kleid gehüllt, und sie hatte kein Gesicht. Gebückt wartete sie auf ihn. Es war, als habe sie sich noch nie bewegt. Als sei sie immer hiergewesen. Und sie wartete nicht auf irgend jemanden. Auf ihn wartete sie.
Er wollte lachen, johlen, aber er brachte keinen Ton hervor. Er wollte laufen. Seine Beine gehorchten ihm nicht. In gleichförmigem Tempo näherte er sich dem Haus. Er atmete nicht.
Im Hausflur machte er Licht. Über die Rampe gelangte er in den Gang, in dem die Wohnung lag. Er drehte sich nicht um. Er trat ein, stellte den Korb ab und drückte die Tür mit dem Hinterteil zu. Erst dann wandte er sich um und sperrte ab.
»Ha, ha, ha! Jetzt werden wir schmausen! Jetzt werden wir löffeln! Ha, ha, ha!«
Er sah sich in der Küche um. Die Einrichtung und alles Geschirr stammten von Familie Kästner. Er stellte einen großen Topf auf und leerte den Inhalt von zwei Dosen hinein. Als der Geruch von Bohnen aufstieg, löste sich allmählich seine Spannung.
Nach dem Essen ging er mit dem Einkaufskorb hinüber ins Zimmer, wo ihn das Summen der Kamera empfing. Auch diesmal brach das Bett nicht zusammen, als er mit dem Fuß die Stabilität prüfte. Er holte eine Decke und ein Kissen. Er legte sich hin, riß eine Tafel Milchschokolade auf und schob sich einen Riegel in den Mund.
Er ließ den Blick schweifen. Noch waren längst nicht alle Möbel da. Doch die, die er hereingeschafft hatte, standen an ihrem alten Platz. Das braune Regal, das gelbe. Die uralte Stehlampe. Der etwas speckige Fauteuil. Der Schaukelstuhl mit der abgewetzten Armlehne, in dem ihm als Kind mitunter übel geworden war. Und dem Bett gegenüber an der Wand Johanna. Das Bild der unbekannten Frau, das immer hier gehangen hatte. Eine schöne Frau mit langem dunklem Haar, die sich an einen stilisierten Baumstamm lehnte und dem Betrachter in die Augen sah. Scherzhaft hatten seine Eltern sie Johanna genannt. Obwohl niemand wußte, wer das Bild gemalt hatte und wen es darstellte. Ja nicht einmal, woher es stammte, hätte jemand sagen können.
Das Laken auf der Matratze war weich. Noch immer verströmte es einen vertrauten Duft.
Er drehte sich auf die Seite. Mit der Hand tastete er hinter sich nach einem weiteren Stück Schokolade. Müde und zugleich entspannt blickte er auf das Fenster zur Straße. Es war ein Doppelfenster, undicht, so daß sie im Winter schäbige Decken auf das Brett zwischen äußeres und inneres Fenster gelegt hatten, um Zugluft zu vermeiden.
Vor Weihnachten hatte er hier den Brief an das Christkind abgegeben.
Anfang Dezember erinnerte ihn die Mutter, seinen Wunschzettel an das Christkind aufzusetzen. Nie vergaß sie zu erwähnen, daß das Christkind so arm sei, daß es sich selbst nur ein dünnes Kleid leisten könne, und er solle sich bescheiden. So setzte er sich an den Tisch, seine Füße baumelten über dem Boden. Am Bleistift kauend, dachte er über seine Träume nach. War ein ferngesteuerter Lastwagen zu kostspielig für das Christkind? Hatte es zuwenig Geld für eine Spielzeugautobahn? Oder für ein Elektroboot? Ihm fielen die zauberhaftesten Dinge ein, doch seine Mutter versicherte ihm, seine Wünsche würden das Christkind in Gewissensnöte stürzen, weil es nicht wissen würde, woher es all diese Sachen bekommen solle.
Und so standen am Ende Kleinigkeiten auf dem Zettel. Eine neue Füllfeder. Ein Paket Abziehbilder. Ein Gummiball. Der Brief wanderte auf die zerlumpte Decke zwischen den Fenstern, wo ihn in einer der kommenden Nächte ein Engel abholen würde, um ihn dem Christkind zu bringen.
Wie bekam der Engel das Fenster auf?
So lautete die Frage, die Jonas vor dem Einschlafen gewälzt hatte. Er wollte die Augen gar nicht zumachen, wach bleiben wollte er. Ob der Engel in dieser Nacht kam? Würde er ihn hören?
Sein erster Gedanke am Morgen war: Nun war er doch eingeschlafen. Aber wann nur, wann?
Er lief zum Fenster. War der Umschlag verschwunden, was selten am ersten, meist am zweiten oder erst am dritten Tag geschah, da die Engel viel zu tun hatten, fühlte Jonas ein Glücksgefühl, das
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