Die Arbeit der Nacht
alles übertraf, was er Wochen später am Weihnachtsabend erlebte. Gewiß, er freute sich über die Geschenke, und das Bewußtsein, dem Christkind persönlich so nahe gewesen zu sein, als es die Pakete unter die Tanne gelegt hatte, während er in der Küche gesessen war, versetzte ihn in Aufregung. Die Eltern empfingen Onkel Reinhard und Tante Lena, Onkel Richard und Tante Olga. Auf dem Weihnachtsbaum strahlten Kerzen. Jonas legte sich auf den Boden, lauschte nebenbei dem Gespräch der Erwachsenen, das sich auf dem Weg zu ihm in ein gleichmäßiges Raunen verwandelte und von dem er sich eingehüllt fühlte, während er in einem Buch blätterte oder die Spielzeuglokomotive untersuchte. Dies alles war schön und rätselhaft. Aber nicht zu vergleichen mit dem Wunder, das sich einige Wochen zuvor ereignet hatte. Ein Engel war nachts gekommen und hatte seinen Brief abgeholt.
Seufzend wälzte sich Jonas auf die andere Seite. Von der Schokolade war nur noch eine Rippe da. Er steckte sie sich in den Mund und zerknüllte das Papier.
Er merkte, daß er nicht mehr lange wach bleiben konnte. Er überwand seine Trägheit und stand auf.
Vor dem Bett postierte er nebeneinander drei Kameras. Er blickte durch das Objektiv, korrigierte den Winkel, legte Kassetten ein. Als alles bereit war, wandte er sich dem Fernseher und der daran angeschlossenen Kamera zu. Das Band von letzter Nacht hatte er in der Hosentasche. Er legte es ein und drückte auf Start.
Die Kamera war nicht auf das Bett gerichtet, und sie stand auch nicht im Schlafzimmer. Das Bild zeigte die Duschkabine im Bad. Im Bad dieser Wohnung. In der Hollandstraße.
Jemand schien schon längere Zeit zu duschen, und zwar heiß. Das Glas der Kabinenwände war beschlagen, und oben stieg Dampf auf. Das Rauschen des Wassers war jedoch nicht zu hören. Es schien ohne Ton aufgenommen worden zu sein.
Nach zehn Minuten begann sich Jonas zu fragen, wie lange diese Wasserverschwendung noch andauern würde.
Zwanzig Minuten. Er war so müde, er mußte auf doppelte Geschwindigkeit schalten. Dreißig Minuten, vierzig. Eine Stunde. Die Badezimmertür war geschlossen, und der Raum füllte sich zunehmend mit Dampf. Die Tür zur Duschkabine war nur noch zu erahnen.
Nach zwei Stunden war auf dem Bildschirm nur noch eine zähe graue Masse zu sehen.
Eine weitere Viertelstunde danach begann die Sicht rasch besser zu werden. Die Badezimmertür kam ins Bild, sie stand nun offen. Ebenso jene zur Duschkabine.
Die Kabine war leer.
Das Band endete, ohne daß jemand zu sehen gewesen war.
Jonas schaltete ab. Vorsichtig, als habe das auf dem Band Gesehene noch direkten Bezug zu allem, was in dieser Sekunde vorging, spähte er ins Bad. Er blickte auf den Vorleger. Auf die Duschtasse. Auf den Seifenspender, der aus den Fliesen ragte. Alles sah aus wie immer.
Aber das war eigentlich nicht möglich. Es mußte doch etwas anders sein. Irgend etwas.
Hier hatte das, was er auf dem Video gesehen hatte, stattgefunden. Es gehörte also zu diesem Ort. Aber der Ort hatte es verlassen, ihm haftete nichts mehr vom Vergangenen an. Nur noch eine Duschkabine. Keine beschlagenen Scheiben. Kein Dampf. Nur noch Erinnerung. Leere.
Es war kurz nach elf. Er programmierte eine Kamera auf 2.05 Uhr, die zweite auf 5.05 Uhr. Dann schaltete er die dritte ein, streifte die Kleider ab und legte sich ins Bett.
17
Er glaubte es kaum, als er am Mobiltelefon die Zeit ablas. Es war nach zehn. Er hatte elf Stunden geschlafen. Dennoch fühlte er sich nicht im mindesten erholt.
In der Küche merkte er, daß er am Vorabend beim Ägypter vergessen hatte, Brot fürs Frühstück zu besorgen. Er wärmte sich eine weitere Konservendose. Kaffee gab es, doch es war eine Sorte, die er nicht mochte. Er trank Mineralwasser.
Nach dem Essen schaffte er Ordnung. Er öffnete alle Fenster, damit es durchzog und frische Luft in die stickigen Räume drang. Er schüttelte das Bett auf. Er spulte die Kassetten zurück, deren dreifaches Surren das Zimmer erfüllte. Er stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Ohne es sich selbst einzugestehen, hielt er bei all diesen Verrichtungen immerzu Ausschau. Nach Veränderung. Nach Hinweisen. Nach etwas, das ihm am Tag zuvor nicht aufgefallen war.
Er duschte kalt. Die Augen schloß er dabei nicht. Aus vollem Hals sang er ein Seeräuberlied, in dem kielgeholt und über die Planke gegangen wurde. Als er sich im Zimmer abtrocknete, erblickte er die angebrochene Tafel Schokolade. Einen Moment zögerte
Weitere Kostenlose Bücher