Die Arche
Unendlichkeit. Volyova stellte sich den Schnitt ähnlich
schmerzhaft vor, als hätte sie angefangen, sich selbst den Arm
abzusägen. Auch das verstand sie. Ein schneller, sauberer
Selbstmord genügte nicht, wäre der Größe seines
Verbrechens nicht angemessen. Es musste ein langsamer, künstlich
in die Länge gezogener, qualvoller Tod sein. Eine Hinrichtung
vor einem verlässlichen Zeugen, der die Strafe zu würdigen
wusste und in Erinnerung behalten würde.
Der Strahl hatte eine hundert Meter lange Furche in den Rumpf
gefressen und zog Ströme von Luft und Sekreten hinter sich her.
Der Captain war am Verbluten.
»Hören Sie auf«, sagte sie. »Um Gottes willen,
hören Sie doch auf!«
»Ich muss es zu Ende bringen, Ilia. Bitte vergeben Sie
mir.«
»Nein. Das lasse ich nicht zu.«
Sie gönnte sich keine Bedenkzeit. Sonst hätte sie wohl
kaum den Mut aufgebracht, um zu tun, was getan werden musste. Sie
hatte sich nie für besonders tapfer gehalten, und ganz sicher
war es nicht ihre Art, das Opferlamm zu spielen.
Ilia Volyova flog dem Strahl entgegen und steuerte das Shuttle
zwischen das Geschütz und die tödliche Schramme, die es in
die Sehnsucht nach Unendlichkeit grub.
»Nein!«, hörte sie den Captain rufen.
Aber es war schon zu spät. Es dauerte mehr als eine Sekunde,
bis das Geschütz das Feuer einstellte, und er konnte den Lauf
nicht so schnell bewegen, dass die Fähre nicht in die
Schusslinie geriet. Volyova streifte den Strahl nur – sie war
nicht voll auf Kollisionskurs –, doch er vernichtete auf einen
Schlag die ganze rechte Hälfte ihres Schiffs. Panzerung,
Isolierung, Innenverstrebungen, Druckmembran – alles wurde
weggerissen. Volyova bekam noch mit, dass sie das Zentrum verfehlt
hatte, und dass es im Grunde keine Rolle spielte.
Denn sterben musste sie auch so.
Ihr Blick trübte sich. Durch ihre Luftröhre rann es so
eiskalt, als hätte ihr jemand flüssiges Helium in die Kehle
gegossen. Beim nächsten Atemzug raste ihr die Kälte in die
Lungen. Ihre Brust fühlte sich an wie Granit. Alle ihre inneren
Organe wurden schockgefrostet.
Ein letztes Wort auf dem Totenbett erschien ihr angebracht. Sie
öffnete den Mund, aber sprechen konnte sie nicht mehr.
Kapitel 31
»Warum, Wolf?«, fragte Felka.
Sie stand allein an dem eisengrauen Strand mit den
Felstümpeln unter dem silbernen Himmel, wo sie sich auf Skades
Veranlassung schon einmal mit dem Wolf getroffen hatte. Diesmal war
es nur ein sehr realistischer Traum. Sie war wieder auf Clavains
Schiff, Skade war tot, doch der Wolf erschien ihr ebenso wirklich wie
zuvor. Seine Gestalt war etwas unscharf, wie eine Rauchwolke, die
sich gelegentlich zur Karikatur einer menschlichen Gestalt
verdichtete.
»Warum was?«
»Warum hasst du das Leben so sehr?«
»Ich hasse es nicht. Wir hassen es nicht. Wir tun nur, was
wir tun müssen.«
Felka kniete, von Tiergebeinen umgeben, auf dem Felsen. Sie
begriff, dass die Präsenz der Wölfe die Erklärung war
für eines der großen kosmischen Rätsel, ein
Paradoxon, das den menschlichen Geist seit den ersten Anfängen
der Raumfahrt beschäftigte. Die Galaxis wimmelte von Sternen,
und viele dieser Sterne waren von Welten umgeben. Gewiss, nicht alle
Welten kreisten im richtigen Abstand um ihre Sonnen, um die
Entstehung von Leben zu ermöglichen, und nicht alle hatten den
Metallgehalt, der Voraussetzung war für eine komplexe
Kohlenstoffchemie. Manchmal waren auch die Sterne nicht so stabil,
dass das Leben Fuß fassen konnte. Doch das spielte alles keine
Rolle, denn es gab hunderte von Milliarden von Sternen. Wenn nur ein
winziger Bruchteil davon bewohnbare Planeten hatte, müsste die
Galaxis von Leben nur so wimmeln.
Aber nichts wies darauf hin, dass intelligentes Leben sich jemals
über mehrere Sonnensysteme ausgebreitet hätte, obwohl das
relativ leicht möglich gewesen wäre. Der Blick in den
nächtlichen Himmel hatte die Philosophen der Menschheit zu dem
Schluss verleitet, intelligentes Leben sei eine ausnehmend seltene
Erscheinung; die menschliche Rasse sei vielleicht sogar die einzige
intelligente Zivilisation in der gesamten Galaxis.
Sie irrten sich, aber das zeigte sich erst, als das interstellare
Zeitalter anbrach und die ersten Expeditionen auf Spuren
zerschlagener Kulturen, zerstörter Welten und ausgerotteter
Spezies stießen. Und diese Spuren waren beängstigend
zahlreich.
Intelligentes Leben war demnach nicht so selten, aber sehr stark
vom Aussterben bedroht. Man konnte beinahe den
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