Die Arche
Original dringend braucht.«
Der Servomat kannte sich auf dem Schiff gut aus. Clavain
führte sie durch ein Labyrinth von Korridoren und
Schächten, Rampen und Röhren, Räumen und
Vorräumen und durchquerte dabei viele Bereiche, von denen Khouri
nur eine vage Ahnung hatte. Es gab Teile des Schiffes, die seit
Jahrzehnten Weltzeit niemand mehr betreten hatte. Selbst Ilia hatte
es geflissentlich vermieden, sich dorthin zu verirren. Die Unendlichkeit war immer schon so weitläufig und
unübersichtlich gewesen wie das U-Bahn-Netz einer menschenleeren
Großstadt. Ein Grundriss war nicht zu erkennen. Sie war ein
Geisterschiff, das nicht nur von cybernetischen Gespenstern oder
Hirngespinsten heimgesucht wurde. Ächzen und Stöhnen
erfüllte die kilometerlangen, leeren Gänge. Ratten huschten
durch die Schatten, Maschinen und Verrückte lauerten in den
Ecken. Das Schiff war launisch und zeigte Verfallserscheinungen wie
ein altes Haus.
Doch jetzt hatte sich die Atmosphäre irgendwie
verändert. Vielleicht gab es die Gespenster, die unheimlichen
Ecken noch immer. Doch nun wurde alles von einem ganz bestimmten
Geist geprägt, einer intelligenten Präsenz, die jeden
Kubikzentimeter durchdrang und sich nicht an einem bestimmten Punkt
lokalisieren ließ. Wohin sie auch gingen, der Captain war da.
Er spürte sie, und sie spürten ihn, auch wenn sich ihnen
nur die Nackenhaare sträubten, als würden sie scharf
beobachtet. Die Bedrohung war stärker und zugleich
schwächer geworden als zuvor, es kam nur darauf an, auf welcher
Seite der Captain stand.
Khouri wusste es nicht. Und sie ahnte, dass auch Ilia sich nie so
ganz sicher gewesen war.
Allmählich kamen sie in vertrautere Gefilde. Khouri erkannte
den Sektor, er hatte sich seit der Transformation des Captains kaum
verändert. Die Wände waren sepiabraun wie alte Manuskripte,
in den Gängen war es düster wie in einem Kreuzgang.
Ockerfarbene Wandleuchten, die wie Kerzen flackerten, waren die
einzige Lichtquelle. Clavain führte sie zur Krankenstation.
Sie betraten einen niedrigen, fensterlosen Raum. Klobige
Servomaten, wahre Maschinenkolosse, kauerten tief in den Ecken, als
rechneten sie nicht damit, gebraucht zu werden. In der Mitte stand
inmitten einer kleinen Schar plumper Überwachungsgeräte ein
Einzelbett. Darin lag eine Frau auf dem Rücken. Sie hatte die
Arme vor der Brust verschränkt, ihre Augen waren geschlossen.
Biomedizinische Untersuchungsstrahlen flackerten wie Nordlichter
über sie hin.
Khouri trat näher. Kein Zweifel, die Frau war Volyova, aber
ihre Freundin sah aus, als hätte sie an einem Experiment zur
künstlichen Alterung teilgenommen, bei dem mit Medikamenten das
Fleisch über den Knochen geschrumpft und die Haut auf eine
durchsichtige, pergamentdünne Schicht reduziert wurde. Sie
wirkte so zerbrechlich, als wollte sie jeden Augenblick zu Staub
zerfallen. Khouri besuchte Volyova nicht zum ersten Mal hier auf der
Krankenstation. Bei Sylvestes Gefangennahme war es auf der
Oberfläche von Resurgam zu einer Schießerei gekommen, bei
der Volyova ebenfalls verletzt worden war, aber damals hatte sie nie
in Lebensgefahr geschwebt. Jetzt musste man schon sehr genau
hinsehen, um zu erkennen, dass sie nicht bereits tot war. Sie wirkte
so vertrocknet wie eine Mumie.
Khouri wandte sich erschüttert an die Beta-Kopie. »Was
ist geschehen?«
»Ich weiß es noch immer nicht genau. Bevor sie mich
schlafen legte, war alles in Ordnung mit ihr. Als ich wieder zu mir
kam, war ich hier in diesem Raum. Sie lag im Bett. Die Maschinen
hatten ihren Zustand stabilisiert, aber viel mehr konnten sie nicht
tun. Auf lange Sicht lag sie immer noch im Sterben.« Clavain
deutete mit einem Nicken auf die Anzeigen oberhalb von Volyova.
»Ich kenne solche Verletzungen aus Kriegszeiten. Sie hat Vakuum
geatmet, ohne gegen den inneren Flüssigkeitsverlust
geschützt zu sein. Die Dekompression muss sehr schnell erfolgt
sein, aber nicht schnell genug, um sie auf der Stelle zu töten.
Den größten Schaden haben die Lungen erlitten – dort
bildeten sich Eiskristalle und beschädigten die Alveolen. Sie
ist auf beiden Augen blind, und ihre Hirnfunktion ist
beeinträchtigt, allerdings wohl nicht im kognitiven Bereich.
Auch die Luftröhre ist in Mitleidenschaft gezogen, deshalb
fällt ihr das Sprechen schwer.«
»Sie ist eine Ultra«, sagte Thorn mit einem Anflug von
Verzweiflung. »Ultras sterben nicht gleich, wenn sie ein wenig
Vakuum schlucken.«
»Sie unterscheidet sich sehr von anderen
Weitere Kostenlose Bücher