Die Arche
unblutigste
Alternative, Sie erinnern sich?«
»Wenn Sie Blut vergießen wollen«, sagte Ilia
Volyova, »dann sind Sie bei mir an der richtigen
Stelle.«
* * *
Kurz darauf fiel sie in einen Dämmerzustand, der eine gewisse
Ähnlichkeit mit Schlaf hatte. Die Anzeigen beruhigten sich,
Sinuskurven und Fourier-Histogramme spiegelten eine drastische
Veränderung der Neuralaktivität. Die Besucher beobachteten
sie etliche Minuten lang und fragten sich, ob sie träumte oder
Pläne schmiedete, und ob der Unterschied überhaupt von
Belang war.
Die nächsten sechs Stunden vergingen schnell. Thorn und
Khouri kehrten ins Transfer-Shuttle zurück, um sich mit ihren
Stellvertretern zu beraten. Zu ihrer Erleichterung war es
während des Besuchs bei Volyova zu keiner Krise gekommen. Ein
paar kleinere Unruhen waren zu vermelden, aber die meisten der
zweitausend Passagiere hatten hingenommen, was man ihnen über
die Unverträglichkeit der Schiffsatmosphären erzählte.
Jetzt versicherte man ihnen, die technischen Schwierigkeiten seien
behoben – es hätte sich nur um eine Sensorstörung
gehandelt –, nun könne in der vorher vereinbarten
Reihenfolge mit dem Ausschiffen begonnen werden. Ein paar hundert
Meter von der Parkbucht entfernt hatten Khouri und Volyova im
rotierenden Teil des Schiffs ein großes Auffanglager
vorbereitet. Dieser Bereich war von den Transformationen des Captains
halbwegs verschont geblieben, und die beiden hatten sich große
Mühe gegeben, um allzu erschreckende Missbildungen zu
kaschieren.
Der Raum war kalt und feucht und hatte trotz aller Anstrengungen,
ihn wohnlich zu gestalten, noch immer die Atmosphäre einer
Gruft. Man hatte ihn durch Innenwände in kleinere Einheiten
für jeweils hundert Passagiere gegliedert, die in sich weiter so
unterteilt werden konnten, dass Familienverbände eigene Zellen
bekamen. Insgesamt war Platz für zehntausend Passagiere –
vier weitere Shuttle-Fuhren –, vor dem Eintreffen der sechsten
Ladung mussten jedoch die ersten Gruppen in den Hauptteil des
Schiffes verlegt werden. Dann würde allmählich die Wahrheit
aufscheinen: die Menschen würden erkennen, dass man sie auf ein
Schiff gebracht hatte, das nicht nur von der gefürchteten
Schmelzseuche befallen, sondern von seinem eigenen Captain aufgezehrt
und umgewandelt worden war, und dass sie sich im Grunde genommen im
Innern dieses Captains befanden.
Khouri war darauf vorbereitet, dass diese Erkenntnis panisches
Entsetzen auslösen würde. Wahrscheinlich mussten sie das
Kriegsrecht verhängen und noch härter durchgreifen, als es
jetzt auf Resurgam geschah. Einige Menschen würden sterben, und
wahrscheinlich musste man einige weitere hinrichten, um sich
durchzusetzen.
Wobei das alles zur Bedeutungslosigkeit verblassen würde,
wenn erst die schlimmste Tatsache ans Licht kam, dass nämlich
Ilia Volyova, der verhasste Triumvir, noch am Leben war, und dass
ausgerechnet sie die Evakuierung organisiert hatte.
Dann würde die Hölle losbrechen.
Das Shuttle legte ab und trat den Rückflug nach Resurgam an.
Khouri sah ihm nach. Dreißig Stunden Flugzeit, dazu – im
günstigsten Fall – noch einmal die Hälfte dieser Zeit,
bevor es wieder starten konnte. In zwei Tagen könnte Thorn
zurück sein. Wenn es ihr gelänge, bis dahin alles
zusammenzuhalten, würde sie sich schon vorkommen, als hätte
sie einen Gipfel erklommen.
Dabei standen noch achtundneunzig weitere Flüge
bevor…
Immer einen Fuß vor den anderen setzen, dachte sie. Das
hatte man ihr in ihrer Soldatenzeit beigebracht: Zerlege jedes
Problem in überschaubare Einzelschritte. Dann kannst du es
Stück für Stück angehen, ohne von der Größe
der Aufgabe überwältigt zu werden. Konzentriere dich
zunächst auf die Details und setze sie erst anschließend
wieder zu einem Ganzen zusammen.
In der Ferne tobte noch immer die Raumschlacht. Die Blitze
erinnerten an wild feuernde Synapsen in einem aufgeschnittenen
Gehirn. Khouri war überzeugt, dass Volyova ahnte, was dort
vorging. Vielleicht wusste auch Clavains Beta-Kopie Bescheid. Aber
Volyova schlief, und dem Servomaten traute Khouri nicht über den
Weg. Womöglich erzählte er ihr nur raffinierte Lügen.
Damit bliebe noch der Captain. Auch er könnte ihr vermutlich
Auskunft geben.
Khouri machte sich allein auf den Weg durch das Schiff und fuhr
mit dem klapprigen Fahrstuhl zum Geschützpark hinunter. Nachdem
sie den Ausflug hunderte von Malen mit Volyova zusammen unternommen
hatte, bereitete es ihr jetzt ein
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