Die Arche
hundert Meter lange Schramme zog sich in vielen
Windungen über den Rumpf. Sie war ziemlich tief, bohrte sich
förmlich in das Schiff hinein und war allem Anschein nach
frisch: die Kanten waren scharf, und nichts wies darauf hin, dass man
versucht hätte, sie zu flicken. Khouri krampfte sich der Magen
zusammen.
»Sie ist neu«, sagte sie.
Kapitel 32
Das Transfer-Shuttle glitt an dem mächtigen Raumschiff
entlang wie eine Wasserblase an der Flanke eines
narbenübersäten Wales. Khouri und Thorn begaben sich auf
das selten benützte Flugdeck, verriegelten die Tür hinter
sich und ließen einige Scheinwerfer ausfahren. Lichtfinger
kratzten über den Rumpf und machten seine Topologie
überdeutlich sichtbar. Die barocken Transformationen zeigten
sich in ihrer ganzen abscheulichen Vielfalt – Falten, Kringel
und riesige Flächen mit eidechsenähnlichen Schuppen –,
doch außer der Schramme waren keine Schäden zu
erkennen.
»Und?«, flüsterte Thorn. »Was hältst du
davon?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Khouri. »Aber
eines ist sicher. Normalerweise hätte sich Ilia inzwischen
gemeldet.«
Thorn nickte. »Du glaubst, hier hat eine Katastrophe
stattgefunden?«
»Wir haben einen Kampf beobachtet, Thorn, jedenfalls sah es
danach aus. Das legt gewisse Vermutungen nahe.«
»Aber das war weit weg.«
»Bist du dir da so sicher?«
»Einigermaßen. Die Blitze waren nicht willkürlich
über den Himmel verteilt. Sie kamen dicht hintereinander und
waren nicht weit von der Ekliptik entfernt. Das heißt, was
immer wir gesehen haben, es war weit weg von hier – zwanzig bis
dreißig Lichtminuten, vielleicht sogar mehrere Lichtstunden
entfernt. Wäre das Schiff mittendrin gewesen, dann hätten
sich die Blitze über ein viel größeres Volumen
verteilt.«
»Schön. Aber nimm es mir bitte nicht übel, wenn
sich meine Erleichterung in Grenzen hält.«
»Was wir hier sehen, kann nichts mit den Blitzen zu tun
haben, Ana. Wenn sie tatsächlich von der anderen Seite des
Systems kamen, wurden unglaubliche Energien freigesetzt. Das Schiff
sieht zwar so aus, als hätte es einen Treffer abbekommen, aber
es kann kein Volltreffer von den Weltraumgeschützen gewesen
sein, sonst gäbe es kein Schiff mehr.«
»Dann wurde es eben von Granatsplittern getroffen.«
»Nicht sehr wahrscheinlich…«
»Verdammt, Thorn, irgendetwas ist aber passiert.«
Die Displays an den Konsolen wurden lebendig, obwohl keiner von
ihnen etwas unternommen hatte. Khouri biss sich auf die Unterlippe,
beugte sich vor und befragte das Shuttle.
»Was ist los?«, fragte Thorn.
»Wir werden zum Andocken aufgefordert«, antwortete sie.
»Normaler Anflugvektor. Als wäre alles so wie immer. Aber
warum spricht Ilia dann nicht mit uns?«
»Wir sind für zweitausend Menschen verantwortlich und
sollten uns vergewissern, dass wir nicht in eine Falle
laufen.«
»Das ist mir auch klar.« Sie fuhr mit dem Finger
über die Konsole, rief Befehle und Anfragen ab und tippte
gelegentlich eine Antwort ein.
»Und was machst du jetzt?«, fragte Thorn.
»Ich docke an. Das Schiff hätte inzwischen genügend
Zeit gehabt, uns etwas anzutun.«
Thorn schnitt eine Grimasse, aber er widersprach nicht. Sie
spürten einen Hauch von Mikrogravitation. Das größere
Schiff hatte die Kontrolle über das Transfer-Shuttle
übernommen und steuerte es durch den Anflug. Der Rumpf ragte vor
ihnen auf, die Andockbucht wurde sichtbar. Khouri schloss die Augen
– das Shuttle passte nur knapp durch die Öffnung –,
aber alles ging glatt. Dann waren sie drin. Das Shuttle drehte sich
und sank auf einen Parkschlitten zu. Im letzten Augenblick fing es
sich mit einem schwachen Schubstoß ab, und setzte mit einem
kaum spürbaren Zittern auf. Wieder veränderten sich die
Displays und zeigten an, dass es nun über eine Nabelschnur mit
der Bucht verbunden war. Alles wirkte vollkommen normal.
»Mir gefällt das nicht«, sagte Khouri. »Es
sieht Ilia gar nicht ähnlich.«
»Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, war sie nicht
gerade in versöhnlicher Stimmung. Vielleicht spielt sie immer
noch die Beleidigte.«
»Nicht ihre Art«, fauchte Khouri und bedauerte es
sofort. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich weiß nur
nicht, was es ist.«
»Was machen wir mit den Passagieren?«, fragte Thorn.
»Sie bleiben an Bord, bis wir Klarheit haben. Nach
fünfzehn Stunden werden sie es auch noch eine oder zwei Stunden
länger aushalten.«
»Sie werden nicht begeistert sein.«
»Sie werden sich damit
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