Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
tatsächlich über dem schwindelerregenden Abgrund in der Luft zu hängen, während er an anderen Stellen in den Felsen verschwand, als Tunnel durch geriffelte Steinsäulen hindurchführte, um auf der anderen Seite des Berges wieder aufzutauchen. Yazour hatte das erste Soldatenkontingent vorausgeschickt, und schon jetzt sahen sie vor der Unermeßlichkeit dieser riesenhaften Naturschöpfung wie winzige Ameisen aus.
Der Hauptmann lenkte sein Pferd neben Harihn. »Wenn Ihr vorausreiten wollte, Hoheit …«
»Nein.«
Yazour runzelte die Stirn. »Aber ihr müßt jetzt hinaufgehen, Sir, solange noch ein Rest Tageslicht übrig ist. Wenn der Khisu doch noch …«
»Yazour, wir haben Frauen und Kinder bei uns. Soll ich vielleicht sicher hinaufsteigen und es ihnen überlassen, in der Dunkelheit ihren Weg zu suchen? Das ist mein Volk. Bring sie zuerst hinauf und dann diese Lady hier. Der Khisu wird keinen Hinterhalt planen, wenn er weiß, was gut für ihn ist.« Er funkelte Aurian an.
»Aber Hoheit …« protestierte der Hauptmann.
»Gehorche meinem Befehl, Yazour. Sofort!«
Yazour ritt davon, und der Unwille stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Seit er sich mit dieser Zauberin zusammengetan hatte, hatte der Prinz seine Handlungen immer mehr überstürzt. Hatte sie ihn verzaubert? Aber das war Unsinn. In der kurzen Zeit, die sie miteinander gekämpft hatten, hatte er großen Respekt für Aurian entwickelt. Ja, wenn man es genau nahm, mußte Yazour sich eingestehen, daß er sie mochte. Es war vielleicht einfach nur der Umstand, daß Harihn sich endlich wie ein Prinz benahm und wie ein Mann. Es würde eine Zeit dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte.
Aurian zog ihr Pferd nah an Harihns schwarzes Reittier heran. »Gut gesagt, Hoheit – mit einer Ausnahme. Ich werde bei Euch warten.«
»Aber Lady …«
»Keine Einwände, Harihn.« Sie warf noch einen Blick auf die abschüssige Straße, und die Hände, mit denen sie die Zügel des kastanienbraunen Pferdes hielt, das er ihr gegeben hatte, wurden feucht. Der Gedanke daran, diesen ganzen Weg hinaufklettern zu müssen, machte sie körperlich krank. »Wenn ich da raufgehe, ist das letzte, was ich sehen will, dieser Abgrund. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich es überhaupt schaffen werde.« Sie machte ein gequältes Gesicht, als sie über ihre eigene unvernünftige Angst nachdachte.
»Aurian!« protestierte der Prinz.
»Es wird schon gehen.« Die ruhige, vertraute Stimme an ihrer Schulter war voller Verständnis. »Genau das hast du schon einmal zu mir gesagt«, fuhr Anvar fort. »Erinnerst du dich an den Strand?«
Aurian erinnerte sich an Anvars Schwimmstunden und seine Angst vor dem Wasser. Und sie erinnerte sich auch daran, daß sie so wütend auf ihn gewesen war, daß sie ihn am liebsten auf der Stelle ertränkt hätte.
»Wenn ich das geschafft habe, dann kannst du auch das hier schaffen«, versicherte er ihr. »Ich werde ganz in deiner Nähe sein, wenn du mich brauchst.«
Nur allzubald war die Reihe an Aurian, den Aufstieg zu beginnen, so jedenfalls schien es ihr, obwohl die Sonne, während sie gewartet hatten, untergegangen und das Tal jetzt in einen dunklen, purpurfarbenen Schatten getaucht war. Nur die roten Felsen hoch oben auf dem Grat glühten noch im Licht des Sonnenuntergangs.
Sie stiegen am Fuße des schmalen Pfades vom Pferd, und Yazour gab jedem von ihnen eine Fackel, mit der sie ihren Weg beleuchten konnten. Die Magusch nahm das brennende Holz nur widerwillig entgegen. »Eine Hand für die Fackel und die andere für das Pferd«, stöhnte sie. »Und womit, um alles in der Welt, soll ich mich festhalten?«
»Der Pfad ist breiter, als er aussieht, meine Lady«, erklärte Yazour ihr. »Halte dich nur vom Rand fern, und alles wird gut sein.«
Aurian warf ihm einen verdrossenen Blick zu. »Na schön«, sagte sie schwach.
»Keine Angst, Lady«, sagte Anvar. »Sieh nur, ich werde vorangehen, und du kannst mir folgen. Schau einfach nicht nach unten, dann kann dir auch nichts passieren.«
Aurian biß sich auf die Lippen und begann ihren Aufstieg. Der Pfad war erfreulich glatt, und die Fackeln holten die Dämmerung zu ihnen herab, so daß der Abgrund zu ihrer Seite sich in der Dunkelheit verlor. Nichtsdestotrotz hielt Aurian ihren Blick entschlossen von dem Gefälle abgewandt und heftete ihn fest auf den Boden zu ihren Füßen, wobei sie versuchte, nicht an den bodenlosen Abgrund zu denken, der zu ihrer Linken auf sie lauerte. Die eigentliche
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