Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
Shia, der Magusch und Anvar erbaut hatten.
»Bei allem, was die Götter jemals ausgebrütet haben! Mann, ich war verzweifelt! Ich dachte schon, wir hätten euch alle drei verloren!« Yazours Gesicht zeigte eine Mischung aus Erleichterung, Sorge und Ärger. »Was ist passiert, Anvar? Was können wir tun? Hast du den Himmel gesehen? Die Stürme können jetzt jederzeit über uns hereinbrechen.« Er zeigte auf den westlichen Himmel, der am Horizont verhangen und trüb war und durchschossen wurde von einzelnen Strahlen eines leuchtenden, orangefarbenen Lichtes.
Anvars Stimme kratzte in seiner ausgedörrten Kehle, aber seine Worten klangen selbst in seinen eigenen Ohren seltsam ruhig. »Aurian ist mit Shia verbunden – wir können sie nicht bewegen. Du mußt uns verlassen. Nimm die anderen und geh jetzt. Bringt euch in Sicherheit, so lange ihr es noch könnt. Rettet euer eigenes Leben!«
»Und wirst du mit uns kommen?« Yazours Stimme war sehr ruhig.
Anvar wußte, daß es keine Hoffnung gab – er konnte nichts tun, um der Magusch und Shia zu helfen. Sie waren bereits so gut wie tot. Das vernünftigste wäre, mit den anderen zu gehen, sich und den Stab der Erde in Sicherheit zu bringen und in Aurians Namen den Kampf mit Miathan aufzunehmen. Er wußte das alles nur zu gut – er wußte sogar, daß die Magusch es genau so von ihm erwartete –, aber er blickte hinab auf Aurians reglose Gestalt und erinnerte sich an seinen Zorn in Dhiammara, als er dachte, sie sei in dem Kristall dieses Spinnenwesens gestorben. Er erinnerte sich an das Entsetzen, das ihn durchschossen hatte, als der große Stein in dem Tunnel zu fallen schien und er sich lieber unter den Felsbrocken geworfen hatte, um mit ihr zusammen zu sterben, als die Qualen ihres Verlustes noch einmal zu durchleiden. Die Brust der Magusch hob und senkte sich noch immer, ein Leben, das nur noch ein Zerrbild seiner selbst war. Er wußte besser als irgend jemand sonst um die Kraft ihres sturen Willens. Wie konnte er sie verlassen, solange sie noch lebte? Wie konnte er durch die vor ihm liegenden Jahre gehen mit dem Wissen, daß er sie im Stich gelassen hatte, hilflos in der Wüste eines fremden Landes?
Anvar blickte zu Yazour auf und schüttelte den Kopf. »Stell keine so dummen Fragen«, sagte er.
35
Der Brunnen der Seelen
Die Tür war uralt, ihr dickes, wettergegerbtes Holz so grau und schwer wie Stein und die von der Zeit abgestumpfte Schnitzerei darauf im Laufe der Jahre verwittert. Als Anvar die Hand darauf legte, schienen vage Schatten und verschlungene Muster auf ihn zuzuspringen, beleuchtet von silbrigem Maguschfeuer – einem Feuer, das sich zischend aus seinen Fingern ergoß und seine Hand in eine lodernde Fackel verwandelte. Anvar zuckte zusammen, angewidert von dem Anblick seiner eigenen Knochen, die düster durch das weißglühende Fleisch hindurchschienen, aber er spürte kein Gefühl von Hitze oder Schmerz. Lautlos schwang die Tür auf, und er trat hindurch. Als er seine Finger vom schweren Holz der Tür nahm, verlöschte das Feuer in seiner Hand und tauchte seine Umgebung in schattenhafte Düsternis.
Grauschimmernder Nebel schlang sich um ihn und blockierte seine Sicht so wirkungsvoll wie ein Vorhang. Dann hob er sich – ebenfalls wie ein Vorhang – und enthüllte eine gebeugte, in einen grauen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt. Die Erscheinung hielt einen Stab in der Hand und stützte sich auf eine Art und Weise darauf, die den Eindruck großen Alters erweckte. In der anderen Hand hielt sie eine Laterne, die einen einzelnen, silbernen Strahl auf die weißen, feuchtglänzenden Kieselsteine eines Weges warf. Als die Gestalt ihren Kopf drehte, fing Anvar das intelligente Glitzern eines durchdringenden, dunklen Auges und das Gewirr eines angegrauten Bartes im Schatten der Kapuze auf. In diesem Augenblick erschien Anvar der alte Mann sehr vertraut, als hätte er ihn schon immer gekannt, und doch konnte er sich nicht daran erinnern, ihm je begegnet zu sein oder überhaupt jemals in seinem Leben jemanden wie ihn getroffen zu haben. Um genau zu sein, stellte er mit einem Schaudern fest, konnte er sich an überhaupt nichts erinnern. Er runzelte die Stirn. Wie war er hierhergekommen? Wo war er hergekommen? Als könne er Anvars verwirrte Gedanken lesen, schenkte der alte Mann ihm ein ermutigendes Lächeln und bedeutete ihm, ihm zu folgen.
Zuerst führte der Pfad durch eine schmale Kluft in den steilen Felsen. Schlaff herabhängende Bäume
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