Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
innerlich, als sie den unvorteilhaften Namen des armen Kindes rief. (»Ich habe ihn nach seinem Vater genannt«, hatte Tilda zu ihrer Verteidigung gesagt. »Zumindest bin ich beinahe sicher, daß das sein Vater war.«) Emmie schüttelte resigniert den Kopf und klopfte noch einmal. Sie hatte schon eine ganze Weile auf das unnachgiebige Holz gehämmert, als sie ein knirschendes Geräusch auf der anderen Seite hörte, als hätte jemand einen schweren Gegenstand von der Tür weggezerrt. Dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und ein dunkles, argwöhnisches Auge spähte hindurch. »Meine Ma hat gesagt, ich soll niemandem die verdammte Tür aufmachen!«
Die junge Frau hatte gerade noch Zeit, ihren Stock in den Spalt zu stecken, bevor die Tür wieder zugeschlagen wurde. Von dem Zehnjährigen auf der anderen Seite kam ein solcher Schwall von Flüchen, daß Emmie zusammenzuckte, obwohl sie glaubte, gegen die Gossensprache immun geworden zu sein. Trotz seiner gespielten Tapferkeit konnte sie spüren, daß das Kind große Angst hatte – und nicht ohne Grund; immerhin war seine Mutter die ganze Nacht über nicht nach Hause gekommen.
»Sei nicht dumm«, sagte sie energisch. »Tilda hatte gestern abend etwas Ärger, und das ist der Grund, warum sie nicht nach Hause gekommen ist. Aber keine Angst, sie ist jetzt sicher bei Freunden. Mein Name ist Emmie. Sie hat mich geschickt, um dich zu holen, damit du auch in Sicherheit bist.« Mit diesen Worten erzwang sie sich den Weg in das Zimmer.
»Geh weg!« heulte das Kind. »Ich komme nicht mit dir. Wo ist meine Mama?« Es hockte in der hintersten Ecke eines einzigen Raumes, in einem Nest verlauster Lumpen, die offensichtlich sein Bett darstellten; seine dunklen Augen blickten hinter einem zotteligen, schwarzen Pony zu ihr auf.
»Na, komm schon, Grince«, versucht Emmie ihn zu überreden. »Sieh mal, wir dürfen keine Zeit verschwenden. Deine Mutter macht sich Sorgen um dich.« Voller Mitleid blickte sie auf den kleinen, mageren Jungen herab und verfluchte Tilda innerlich. Wahrhaftig, das Kind sah vollkommen vernachlässigt aus und genauso unterernährt wie dieser arme, streunende Hund vorhin.
»Na, komm schon.« Sie trat vor sein Bett, kniet sich hin und erstarrte vor Entsetzen, als sich das grausame Glitzern eines Messers in der Hand des kleines Jungen sah.
»Verzieh dich!« schrie er mit schriller Stimme. »Komm bloß nicht näher, sonst schlitz ich dich auf!«
Er meinte es ernst, soviel stand fest. Emmie schauderte. Was mußte das für ein Leben sein, das einem Kind so etwas antun konnte? Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn sie ihn doch nur dazu bringen konnte, ihr zu vertrauen. Einen flüchtigen Augenblick lang bedauerte sie es, daß sie den Eintopf dem hungernden Hund gegeben hatte. Der Hund! Emmie schenkte dem Jungen ihr strahlendstes Lächeln. »Ach, vergessen wir die alte Tilda. Die kann warten. Möchtest du vielleicht lieber ein paar Hündchen sehen?« fragte sie entwaffnend.
Grinces Gesicht erstrahlte wie ein Leuchtfeuer. »Hündchen? Wirklich? Gehören sie dir? Kann ich eins haben?« Dann kehrte das Stirnrunzeln wieder zurück. »Aber meine Mama wird das nicht erlauben«, fügte er schmollend hinzu.
Emmie grinste und ging auf die Sprache des Jungen ein. »Deine Mama kann uns mal«, sagte sie fröhlich. »Wenn du das Messer da weglegst und mit mir kommst, kannst du die ganze verdammte Meute haben!«
Zuerst hatte Emmie Angst, daß die Hündin feindselig sein könnte. Als sie sich mit dem aufgeregten Kind im Schlepptau dem Gebäude näherte, befahl sie Grince, draußen zu warten, und schlich sich ängstlich hinein. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die weiße Hündin freute sich, sie zu sehen; wahrscheinlich, so dachte Emmie, hoffte sie, daß sie ihr noch mehr zu essen bringen würde.
»Guter Hund«, sagte sie sanft und streckte die Hand aus, um ihn hinter seinen weichen, weißen Ohren zu kraulen. Zur Belohnung erhielt sie ein Winseln und heftiges Schwanzwackeln, während das Tier sich fest an sie drückte und ihre Hand leckte. Ein gutmütiges Tier, dachte die junge Frau, während sie sich darüber freute, daß ihre Einschätzung der jungen Hundemutter zutraf. Früher einmal hatte dieses Tier einen freundlichen Besitzer gehabt, aber was war aus ihm geworden? Eine schnelle Durchsuchung des Zimmers gab ihr die Antwort. Der Besitzer war in der Hütte gestorben – höchst wahrscheinlich an Alter oder an einer Krankheit –, und der Hund hatte sich
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