Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
weich wie Samt, aber der Tonfall war eher streitlustig und von offenkundiger Müdigkeit gezeichnet. »Wieder mal irgendein idiotisches Opfer von einer Schlägerei Betrunkener?«
Tilda blickte auf und sah einen Mann von durchschnittlicher Größe und mittleren Jahren, das blonde Haar durchzogen mit noch helleren, silbrigen Strähnen. Sein ausdrucksvolles Gesicht war, wenn auch erschöpft und von Entbehrungen gezeichnet, doch überaus angenehm und gut geschnitten, aber seine hellblauen Augen blitzten gereizt. Ohne auf eine Antwort zu warten, riß er die Decke, die den Fremden einhüllte, zur Seite und fluchte. »Melisanda sei uns gnädig, was für ein abscheuliches Durcheinander! Seid ihr Schwachköpfe denn so unglaublich blöd, daß ihr nicht einmal einen einfachen Verband zuwege bringt? Ihr hättet den armen Teufel auch genausogut irgendwo verbluten lassen und mir ausnahmsweise einmal eine Nacht lang einen ordentlichen Schlaf gönnen können. So oder so hätte es für diesen armen Tropf hier nichts geändert. Wenigstens ist er bewußtlos, so daß ich mir nicht auch noch seine Schreie anhören muß.«
Die ganze Zeit über, während er geredet hatte, war Benziorn damit beschäftigt gewesen, die Tasche, die er immer bei sich trug, auszupacken und seine Instrumente an das Mädchen weiterzureichen, das ihn herbeigeholt hatte. Nachdem sie sich aus ihrem gewaltigen Umhang befreit hatte, entpuppte sie sich als ein zartes, blondes Mädchen mit einem Hang zu unbarmherziger Tüchtigkeit. Sie tauchte die Instrumente und Verbände in kochendes Wasser, während der Arzt die Wunden des Fremden säuberte, ohne auch nur einen Augenblick lang in seinem gereizten Brummen innezuhalten.
»Seine Brust ist kein Problem, die Wunde ist nur ein Schnitt quer über die Rippen; es ist keine Stichwunde, und sein Lederwams hat ihn offensichtlich vor dem Schlimmsten bewahrt. Allerdings hat er einen Schock von dem Blutverlust – konntet ihr Idioten ihn nicht wärmer halten? Scheußliche Kopfwunde … Wenn ich schnell mache und wir Glück haben, können wir das Ohr vielleicht noch retten … Was ist los mit dir, Emmie?« fragte er, aber das blonde Mädchen reagierte lediglich mit einem Lächeln.
»Ich bin jetzt fertig, Benziorn.«
»Du! Wer immer du bist«, fuhr der Arzt auf. »Hol mir mehr Lichter. Kerzen, Lampen, was auch immer. Und beeil dich!«
Tilda fuhr mit einem Ruck auf, als sie bemerkte, daß er mit ihr sprach. Da sein gereizter Ton keine Frage zuließ, eilte sie davon, um seinen Wunsch zu erfüllen. Als sie zurückkehrte und ihre Handvoll Kerzen wie geheißen um den Kopf des Fremden herum aufstellte, hatte Benziorn bereits begonnen, die Wunde mit schnellen, sparsamen Bewegungen zu nähen. Als sie näher kam, bemerkte Tilda den vertrauten Geruch seines Atems und begriff erschrocken, daß der Arzt getrunken hatte. O ihr Götter, dachte sie, wo bin ich bloß gelandet?
Tarvas betrachtete sein kleines Königtum und ließ seinen Blick über Bilder des Schmutzes und der Armut gleiten. Etwa drei Dutzend Familien hatten ihr Lager in der Halle aufgeschlagen und teilten sich den Raum mit schlaff herunterhängenden Trennwänden aus Lumpen, Säcken oder was immer sie gerade zur Hand hatten. Kinder schliefen wie kleine Hündchen, zusammengedrängt in einem Durcheinander von Nestern aus Decken, während die Mütter in Eintöpfen rührten oder hoffnungslos an Kleidern herumflickten, deren ursprünglicher Stoff unter den vielen regenbogenfarbigen Schichten der Flicken überhaupt nicht mehr zu erkennen war. Alte Leute, eingehüllt in Umhänge und Schals, schnarchten irgendwo in den Ecken oder wetteiferten mit der dampfenden, frisch gewaschenen Wäsche um den Platz am Feuer, während Gruppen von Männern mit überkreuzten Beinen im Lampenlicht saßen und mit Glaskugeln um Kieselsteine spielten. Die topasfarbenen Augen mehrerer Katzen blinzelten und funkelten im Feuerschein. Irgendwo in der Dunkelheit schrie ein Baby. Jedes Gesicht war ausgemergelt und von Hunger und Elend gezeichnet.
Jarvas spürte, daß sich jemand zu ihm gesellte. Tilda stand neben ihm und betrachtete mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid die Menschen vor ihr.
»Zumindest verhungern sie im Augenblick nicht.« Seine Stimme hatte eine gereizte Note, als wolle er sich verteidigen. »Und sie werden heute nacht nicht irgendwo auf der Straße erfrieren.«
»Aber es sind so viele«, murmelte Tilda. Dann biß sie die Lippen zusammen und wandte den Blick ab. »Dein kostbarer
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