Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
Arzt ist betrunken!« fügte sie hinzu.
Jarvas nickte. »Das ist er meistens. Früher einmal war er der beste Arzt in ganz Nexis. Er hat sich recht behaglich seinen Lebensunterhalt verdient, indem er die Kaufleute und die anderen Reichen behandelt hat – bis zu der Nacht, als diese gräßlichen Ungeheuer zuschlugen.« Er seufzte. »Benziorn war gerade nicht zu Hause gewesen, weil er sich irgendwo um einen Kranken kümmern mußte, als eins der Geschöpfe in sein Haus eingedrungen war und seine Frau und seine Kinder ermordet hatte. Seit diesem Tag trinkt er. Es hat ihn sein Haus und seinen Lebensunterhalt gekostet. Als ich ihn von der Straße geholt hatte, war er nur noch ein stinkendes, halb verhungertes Wrack.« Jarvas zuckte mit den Schultern. »Aber wir können uns glücklich schätzen, ihn zu haben. Betrunken oder nüchtern, er ist immer noch der Beste.«
»Das freut mich zu hören.« Eine Spur Bitterkeit schwang in Tildas Stimme mit. »Es würde mir überhaupt nicht gefallen, wenn wir unseren Hals für irgendeinen Fremden riskiert hätten, nur damit ein betrunkener Arzt ihm schließlich den Rest gibt. Warum haben wir es überhaupt getan? Wir müssen Verrückte gewesen sein!« Tiefe Verzweiflung klang durch ihre Wort hindurch.
Jarvas schüttelte den Kopf. »Wenn ich das nur wüßte!« In dem Augenblick, als er eingegriffen hatte, war es ihm als die einzige Möglichkeit erschienen, aber indem er diesem einen Mann geholfen hatte, hatte er wahrscheinlich den Untergang seiner Herberge besiegelt und damit Not und Leid über viele andere Menschen gebracht. »Pendral wird vielleicht ein oder zwei Tage brauchen, um herauszufinden, wer ich bin«, fuhr er grimmig fort, »aber dann werden sie hierherkommen, das steht fest.« Er seufzte. »Ruh dich jetzt etwas aus, Tilda. Morgen früh werde ich gleich als erstes Emmie hinausschicken, damit sie deinen Sohn holt – und dann müssen wir anfangen, darüber nachzudenken, wie wir hier herauskommen.«
Tildas Zuhause war ein Schweinestall in einer schmutzigen Gasse flußaufwärts, jenseits der großen, weißen Brücke, die in der Nähe des Felsens der Akademie über den Fluß reichte. Emmie, die Tarvas ausgeschickt hatte, um den Sohn der Straßendirne zu holen, ging mit schnellen Schritten durch das verwirrenden Labyrinth und zitterte in der Kälte einer feuchten, grauen Morgendämmerung. Heute kam ihr der dicke Stock, den sie immer zum Schutz bei sich trug, gut zustatten und wurde ausnahmsweise einmal zu dem Zweck benutzt, zu dem er ursprünglich gedacht war, denn ihre gut beschuhten Füße rutschten in dem dicken Schneematsch, der die Pflastersteine jetzt mit einer schlüpfrigen Schicht überzog, immer wieder aus. Die Gassen stanken nach Verwesung, Moder und Verfall, nach menschlichem Schmutz und Exkrementen. Emmie kannte ihn nur allzugut – diesen Geruch tiefster Armut.
Die dunklen Stumpen feuchter, halb verfallener Gebäude mit zugenagelten Fenstern ragten zu beiden Seiten neben ihr auf und verschluckten den größten Teil des bleiernen Morgenlichts, so daß sie die schmalen Gassen in bedrohliche, düstere Tunnel verwandelten. Links und rechts von ihr waren Eingänge, einige davon mit zersplitterten, vermodernden Türen versehen, die schief und wie betrunken an einer einzigen rostigen Angel hingen; andere waren lediglich dunkle, klaffende Löcher, hinter denen sich alle möglichen Gefahren verbergen konnten.
Vor allem an diesen eilte Emmie schnell vorbei. Ihre Nerven waren angespannt, und sie verfluchte Jarvas, weil er sie mit einer solchen Aufgabe betraut hatte. Das war die sicherste Zeit, um diese von Armut geschlagenen Schlupfwinkel aufzusuchen, denn der Großteil ihrer Bewohner würde jetzt nach den verzweifelten Taten der vergangenen Nacht noch schlafen. Trotzdem fühlte Emmie sich unwohl. Obwohl die Gassen vollkommen verlassen schienen, wähnte sie in jedem dieser offenen Eingänge feindliche Augen. Wachsam sah sie sich um und überprüfte noch einmal das Messer in ihrem Gürtel. Dann zog sie sich ihre Kapuze noch fester über das Gewirr ihrer blaßgoldenen Locken und ging weiter, wobei sie Tildas Beschreibungen wieder und wieder vor sich hin murmelte. Die Götter stehen uns bei! dachte sie. Was für ein entsetzlicher Ort, um ein Kind aufzuziehen!
Plötzlich hörte Emmie ein Knurren, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine der schief hängenden Türen vor ihr flog auf und gab eine gewaltige, zottelige, weiße Gestalt frei, deren Lippen
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