Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
Achselzucken ging er weiter, weiter und weiter, durch endlose Reihen von Bäumen hindurch.
Steinerne Stämme, steinerne Aste, Vögel und Insekten – alle waren deutlich und unheimlich in dem trügerisch flackernden Licht zu erkennen, das von irgendwo über dem Wald kam. Der Magusch war voller Ehrfurcht für die Größe dieses Ortes, als wäre er nur ein kleines Kind, das sich in die Säulenhalle eines großen Regenten verirrt hatte. Obwohl die Magie dieses zeitlosen Waldes ihm Hunger und Durst ersparte, wurden seine Beine langsam schwach, und seine Füße hämmerten in seinen Stiefeln. Anvar versuchte, diese Unbequemlichkeiten zu ignorieren. Er mußte wachsam bleiben und sich auf die kommende Begegnung vorbereiten.
Plötzlich hörte der Wald auf. Anvar taumelte hinaus in einen riesigen, offenen Raum – eine gewaltige Höhle vielleicht, obwohl es schwer war, den Ort genau zu beschreiben, denn er war so groß, daß seine Grenzen – falls er überhaupt Grenzen hatte – in weiter Ferne in der Dunkelheit untergingen. Der Boden war mit einer Art Moos überwuchert, das aus winzigen, kribbelnden Stacheln bestand. Es war so etwas wie ein kristallisiertes Mineral, das den ganzen sanft geschwungenen Hügel bedeckte, der sich vor ihm erhob. Auf dem Gipfel stand der gewaltigste Baum, den Anvar je gesehen hatte, sein Umfang war größer als der des riesigen Wetterdoms der Akademie, sein Stamm viel größer als der Maguschturm. So groß war er, daß er sich in der Dunkelheit hoch über Anvar verlor. Der Magusch hatte nun endlich auch die Quelle des verwirrenden, silbernen Lichts gefunden, das den Wald erhellte. Dem Baum war ein reiches Leuchten eigen, das aus seinem Innern kam, als sei er mit gefangenem Mondlicht erfüllt.
Die ungeheuren Ausmaße dieses alten Titanen überwältigten Anvars Sinne. Um seine Gedanken ein wenig zu ordnen, betrachtete er nur den unteren Teil des Baums und konzentrierte sich auf Einzelheiten. Stein oder Holz? Obwohl der Magusch ganz nah heranging, war es ihm unmöglich, das herauszufinden. Das Material des Baums war von der gleichen dumpfen, grauen Körnigkeit wie sie auch die geschnitzte Tür Zwischen den Welten aufwies, durch die er zum Brunnen der Seelen gelangt war.
»Gut beobachtet, o Zauberer! Das Portal des Brunnens der Seelen wurde tatsächlich aus einem Zweig dieses Baumes geschnitzt. Aber wie kommt es, daß du diesen gefährlichen Weg gegangen bist? Und warum bist du immer noch hier und kannst dich daran erinnern?«
Anvar, den die Stimme erschreckt hatte, blickte zu dem Baum hinauf. Und dort, etwa drei Manneshöhen vom Boden entfernt, wo es vorher nichts gegeben hatte als den glatten und ausdruckslosen Stamm, befand sich jetzt eine Tür, eine runde Tür, die einem Astloch im Holz ähnelte. Eine grobe Treppe, scheinbar ein natürlicher Teil des Baums und nicht künstlich angelegt, schien sich in gewaltige Höhen zu strecken. Die Treppe wurde nach oben hin breiter und bildete einen Treppenabsatz und eine Plattform vor dem Eingang.
Die Tür schwang langsam auf. Dort, eingehüllt in das schimmernde, goldene Licht, das aus dem Innern des Baums leuchtete, stand ein … Anvar blinzelte und rieb sich die Augen. Die Gestalt war ein Adler – nein, ein altes Weib … Nein. Es war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Die trügerische Gestalt war von Kopf bis Fuß in einen Umhang aus schwarzen Federn, einer weißen Kapuze und einem weißen Saum gehüllt. Eine Sekunde lang verschwamm Anvars Blick, und er sah einen Igel, dann wieder eine Frau. Ihr Gesicht erkannte er nun; er hatte es bereits auf der Schnitzerei im Tunnel auf dem Weg zum Zeitlosen See gesehen. Was er für eine Kapuze aus weißen Federn gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine wirbelnde Mähne aus schneeweißem Haar. Ihre Augen … Anvar hatte erwartet, daß sie dunkel sein würden wie die eines Falken oder golden wie die eines Adlers, aber statt dessen waren sie ganz bleich, beinahe farblos, so daß sie sich ganz dem weißen Gesicht und dem wintrigen Haar anpaßten. Diese Augen richteten sich jetzt mit beunruhigender Festigkeit auf den Magusch.
»Nun? Ich habe dir eine Frage gestellt. Wie ist es möglich, daß du das Todesportal durchschritten und überlebt hast?«
Angesichts der Ungeduld der Cailleach mußte Anvar sich mit aller Kraft bemühen, seine durcheinander geratenen Gedanken wieder zu sammeln. Er verbeugte sich tief, bevor er antwortete. »Herrin, ich denke, du kennst die Antwort auf deine Frage bereits. Hast du
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