Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
ihrem Blick, als sie Anvar sanft die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und die Decke wieder hochzog, die ihm von den Schultern gerutscht war. Aurians ungeborenes Kind bewegte sich ruhelos in ihrem Leib hin und her, verstört durch das Unbehagen seiner Mutter, und die Magusch ließ ihre Gedanken zu ihm wandern, um Forrals Sohn zu beruhigen.
»Schläfst du eigentlich niemals?« Shias Gedankenstimme war streng, aber Aurian hörte die verborgene Besorgnis darin. Die Katze sah sie ernst und ohne zu blinzeln aus ihren gelben Augen an. »Aurian, warum quälst du dich so? Dein Junges hat ein Anrecht auf dich, das stimmt; aber dieser andere, um den du dich sorgst, ist tot – er braucht deine Hilfe nicht mehr.« Als Aurian bei diesen offenen Worten zusammenzuckte, wurde Shias Ton weicher und enthielt nun das Echo von etwas, das die Magusch mittlerweile als ein Lächeln zu erkennen vermochte. »Was Anvar betrifft, brauchst du dich nun wirklich nicht zu sorgen. Er ist stark, und seine Stärke nimmt immer noch zu. Er wird warten.«
»Ich habe ihn nie darum gebeten, auf mich zu warten«, wandte Aurian ein.
In Shias Gedanken war ein Schulterzucken zu lesen. »Er wird warten – ob du ihn darum bittest oder nicht.«
Aurian schlief wieder ein und wurde eine Weile später von dem köstlichen Duft gebratenen Fleisches geweckt. Anvar war bereits auf und half Nereni dabei, die Vorbereitungen für ihr Festessen zu treffen. Die kleine Frau hatte den ganzen Nachmittag lang gearbeitet. Sie hatte Bohan und Eliizar in den Wald geschickt, um eine bestimmte Art von Knollen zu suchen, die sie in der Asche ihres Feuers backen wollte. Außerdem hatte sie um Beeren und andere eßbare Früchte des Waldes gebeten, die sie zu dem Wildbret, das sie vorbereitet hatte, servieren wollte. Yazour, der sah, was auf ihn zukam, hatte eich prompt erboten, fischen zu gehen. Kurz vor dem Abendessen kehrte er zurück, fröhlich pfeifend und mit leeren Händen, was ihm ein Stirnrunzeln von Nereni eintrug. »Was hätte ich denn machen sollen?« protestierte er mit unschuldiger Miene. »Sie haben einfach nicht angebissen.«
Aurian und Anvar grinsten sich an, denn sie hatten die kleine List des Kriegers durchschaut. Wie gut es doch tat, endlich wieder mit den anderen zusammen und in Sicherheit zu sein. Dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen: Etwas hatte sie die ganze Zeit über nicht losgelassen, und nun begriff sie, was die Erschöpfung und die Freude verdrängt hatte. »Wo, um alles in der Welt, ist Rabe?« fragte sie.
»Sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht, durch den Wald zu streichen und zu jagen«, erwiderte Nereni. »Sie bringt immer Vögel und andere Tiere mit, aber ich mache mir große Sorgen. Was ist, wenn sie einem wilden Tier über den Weg läuft?«
»Du machst dir zu viele Gedanken«, sagte Eliizar zu seiner Frau. »Wenn ein Wolf oder ein Bär kommt, braucht sie doch nur wegzufliegen.«
»Das stimmt«, pflichtete Aurian ihm bei, aber dennoch wunderte sie sich über Rabes Alleingänge.
Rabe hockte unglücklich zwischen den dürren Ästen einer Tanne und sah zu, wie sich das Zwielicht durch das dunkle Gewirr der Bäume stahl. Im Norden erglühten die hohen Gipfel noch immer in dem feurigen Licht des Sonnenuntergangs, und das geflügelte Mädchen zog bei diesem Anblick die Augenbrauen zusammen. Da sie an die langen Tage ihres Zuhauses in den Bergen gewöhnt war, konnte sie sich nicht mit der Tatsache abfinden, daß das Licht in diesem verwünschten Tiefland so schnell dahinschwand.
Sie kämpfte Tränen der Verbitterung nieder. Das war nicht ihre Art zu jagen – sich durch die erdrückende Masse von Bäumen zu schleichen. Sie vermißte den weiten Kampfplatz des offenen Himmels; ihre Freude bei der Jagd waren Geschwindigkeit und Geschicklichkeit. In Aerillia, ihrem verlorenen Zuhause, hatte sie zum Spaß gejagt und ihr gefiedertes Opfer freigelassen, so daß es in Frieden weitersingen und jubilieren konnte. Sie hatte damals noch nicht gewußt, was es hieß, selbst gejagt zu werden – ein Leben als Verbannter ohne Zuflucht zu führen, von den Forderungen eines leeren Magens beherrscht zu werden. Jetzt waren diese Dinge ihr nur allzu vertraut!
Rabe verfluchte Schwarzkralle, der sie gezwungen hatte, voller Angst von ihrem rechtmäßigen Platz als Prinzessin des geflügelten Volkes zu fliehen. Er mußte aufgehalten werden – und bei Yinze, dem Himmelsgott, sie würde es tun! Wenn ihre Kameraden aus der Wüste sie auch
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