Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
hatten.
Die Reise forderte von jedem seinen Tribut. Das Essen für die Menschen und Pferde war streng rationiert, und es war nie genug, um ihnen die Kraft zu geben, sich gegen die harten Märsche und die tödliche Kälte zu wappnen. Die kleine Gruppe wurde mit jedem Tag reizbarer, und selbst der sanftmütige Bohan zeigte immer öfter eine finstere Miene. Außerdem hatte er eine auffällige Abneigung gegen Rabe entwickelt, aber da er nicht sprechen konnte, war er nicht in der Lage zu erklären, warum das so war. Anvar machte sich die größten Sorgen um Aurian. Tag um Tag wurde sie hagerer und hohlwangiger, während das Baby ihr die Nahrung für sein eigenes Wachstum stahl, bis seine Mutter nur noch aus Bauch und Knochen bestand. Da ihr mittlerweile selbst zum Reden die Energie fehlte, wehrte sie sich nicht länger gegen seine Hilfe, während sie sich Schritt für Schritt weiterzog und sich auf den Stab der Erde stützte, den sie mit erfrorenen, mit Lumpen umhüllten Fingern umklammerte. Nachts konnte sie keinen Augenblick lang aufhören zu zittern, obwohl Bohan und Shia sich an sie schmiegten und Anvar immer in ihrer Nähe war, um ihren Körper mit dem seinen zu wärmen. Anvar konnte zu seiner zunehmenden Bestürzung keine Möglichkeit finden, ihr Leiden zu erleichtern, und er wünschte sich aus ganzem Herzen, die Qualen beenden zu können, die Miathan seiner Geliebten und zahllosen anderen neben ihr bereitete.
Während die Tage sich dahinschleppten und die Gefährten ihren kalten, erbärmlichen Marsch fortsetzten, ließ ein Gedanke Anvar nicht mehr los. Warum sollte Aurian ihre Sicherheit und die ihres Kindes aufs Spiel setzen? Er verfügte doch jetzt über seine eigenen Kräfte, und die Magusch hatte ihn, bevor sie ihre Magie verlor, so gut es nur ging ausgebildet. Vielleicht konnte er einen Weg finden, selbst gegen Miathan zu kämpfen. Hätte er sich Aurian anvertraut, hätte sie ihm so tapfere, aber auch törichte Ideen ausgetrieben, denn ohne die fehlenden Waffen hatten sie zu zweit kaum eine Chance gegen den Kessel und würden vielleicht nur einen Krieg zwischen zwei gleich starken Mächten auslösen, einen Krieg, der die ganze Welt zerstören konnte. Aber Anvar behielt seine Gedanken für sich und arbeitete immer weiter an einer Idee, die wie ein Krebsgeschwür in ihm wuchs. Er war überzeugt, daß das seine Chance wäre, seine Mitschuld an Forrals Tod zu sühnen.
Die Freunde waren bereits einige Tage unterwegs, als der Schneesturm zuschlug. Den ganzen Morgen über waren sie geklettert und hatten die Pferde, die seltsam unruhig waren, an ihren Zügeln geführt. Plötzlich spürte Aurian den ersten, scharfkörnigen Schnee im Wind – harte, winzige Kügelchen, die in der rissigen Haut ihrer Hände und ihrer Gesichter brannten und in feinen Strängen über die Felsen wehten und sich schließlich, ohne zu schmelzen, in jeder Felsspalte sammelten. Der Himmel wurde schwarz und schwer, als senkten sich die Wolken, um ihnen bei ihrem Marsch den Berg hinauf entgegenzukommen. Die Gewalt des Windes nahm immer weiter zu, und Rabe, die vor ihnen hergeflogen war, landete plötzlich neben den beiden erschöpften Magusch. »Ich glaube, wir sollten zurückkehren«, sagte sie. »Es gibt keine Möglichkeit für uns, irgendwo Schutz zu finden – wir nähern uns dem höchsten Punkt des Berggrats, und da oben sieht es ziemlich schlimm aus.«
Aurian fluchte. Die Hänge um sie herum bestanden aus nacktem Schotter, und weiter unten war es dasselbe gewesen. »Auch dort, wo wir hergekommen sind, gibt es mittlerweile keine Zuflucht«, sagte sie. Alle sahen einander an, und keiner von ihnen wollte auch nur ein winziges Stück ihres so hart erstrittenen Fortschritts verlieren. Bevor sie noch zu einer Entscheidung kamen, war die Luft voll von weißen, dicken Flocken, die mit schockierender Plötzlichkeit auf sie niederprasselten; der Schnee war so dicht, daß es ihnen schwerfiel zu atmen und sie einander kaum noch sehen konnten.
»Bleibt, wo ihr seid!«„rief Yazour. Aurian streckte die Hand aus, um nach Anvars Ärmel zu greifen, und spürte, wie seine Hand sich fest um ihre eigene schloß. Auf ihrer anderen Seite fühlte sie Bohans große Hand auf ihrer Schulter und hoffte, daß ihre Kameraden einander auf die gleiche Weise festhielten.
Eliizars Stimme durchdrang das anschwellende Heulen des Windes. »Bleibt zusammen!« rief er. »Bindet die Pferde im Kreis aneinander und stellt euch in ihren Kreis hinein!« Es war schwer,
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