Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
kaum gerecht werden.
Später, als die anderen in einen erschöpften Schlummer gefallen waren, stellte er fest, daß er selbst nicht schlafen konnte. Seine Enttäuschung über Aurian erreichte langsam einen Punkt, an dem sie sich in Zorn verwandelte. Was stimmte nicht mit ihr? Sie konnte ihm doch unmöglich seinen Sturz so übelnehmen? Nun ja, er hätte durch seine Voreiligkeit den Stab verlieren können, aber am Ende war doch alles gutgegangen. Nachdem er sich eine Weile unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, gab Anvar den Versuch, einzuschlafen, endgültig auf. Er zündete eine Fackel an und kroch nach oben auf das Dach, wo er in der kühlen Einsamkeit der verschneiten Nacht ein wenig innere Ruhe zu finden hoffte.
Aurian erwachte aus einem Schlaf, der lange auf sich hatte warten lassen und in dem sie immer wieder von den ruhelosen Bewegungen des Kindes in ihrem Leib gestört worden war. Verschlafen vor sich hinmurmelnd, drehte sie sich um, um eine bequemere Lage zu finden, und Shia, die sie mit ihrer Unruhe geweckt hatte, öffnete ein Auge. »Grübelst du immer noch?« fragte die Katze spitz.
Aurian seufzte und setzte sich auf. Wie sehr sie sich doch nach einer Flasche von dem Pfirsichlikör sehnte, den sie und Forral so gern getrunken hatten. Ach, sich herrlich zu betrinken, für eine Weile alles zu vergessen und allem zu entkommen – vor allem dem Wirrwarr der widersprüchlichen Gefühle, die sie zu verzehren schienen, wann immer sie an die beiden einzigen Männer dachte, die ihr je am Herzen gelegen hatten. Shia beobachtete sie immer noch und wartete offensichtlich auf eine Antwort.
»Na schön«, sagte Aurian resigniert. »Als Anvar heute in diese Lawine stürzte, dachte ich, er wäre tot. Es hat so weh getan, Shia, so weh wie damals, als ich Forral verlor. Ich möchte so nicht mehr empfinden – niemals wieder und für keinen Menschen. Einmal war mehr als genug.« Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. »Außerdem«, fuhr sie fort, »lenkt mich dieses ganze lächerliche Getue von meinem Kampf gegen Miathan ab, und das ist doch unsere Hauptsorge. Ich habe keine Zeit für solche Sachen, Shia. Es könnte uns unser Leben kosten.«
»Also ziehst du dich von Anvar zurück und versuchst, deine Gefühle zu vergraben«, überlegte Shia. »Nun, in einer so kleinen Gesellschaft wie unserer kannst du ihm nicht aus dem Weg gehen. Es sieht so aus, als müßtest du ihn wegschicken oder selbst gehen.«
Aurian starrte Shia entsetzt an. Was? Ihre Mission allein erfüllen, ohne Anvar? »Aber das kann ich nicht!«
Die große Katze seufzte. »Warum müßt ihr Menschen die Dinge immer so kompliziert machen? Ich vermute, daß das Problem sich lösen wird, sobald du aufhörst, gegen deine eigenen Gefühle anzukämpfen.« Sie sah Aurian tief in die Augen. »Hör mir zu, meine Freundin. Warum quälst du dich so? Du hast ihn spätestens seit der Wüste geliebt, obwohl ich vermute, daß die Saat dazu schon lange davor gesät worden ist. Niemand lebt ewig, Aurian. Auch ich nicht. Ich schmeichle mir, daß du ein gewisses Maß an Traurigkeit über meinen Verlust empfinden würdest – möchtest du deswegen auch unsere Freundschaft lösen?«
»Natürlich nicht!«
»Warum muß dann der arme Anvar so leiden?« Aurian verspürte Shias geistiges Gegenstück zu einem Schulterzucken. »Immerhin«, fuhr die Katze hinterhältig fort, »besteht jede Chance, daß er dich überleben wird!«
Mit einem schuldbewußten Seitenblick auf ihre schlafenden Freunde versuchte Aurian, ihr Gelächter zu dämpfen. »Meine liebste Shia, was würde ich nur ohne dich anfangen? Du hast das erstaunlichste Talent dafür, mich zu trösten und mir gleichzeitig klarzumachen, was für eine Närrin ich doch bin!«
»Ihr gebt mir ja auch reichlich Gelegenheit zum Üben, du und Anvar«, erwiderte Shia trocken. »Geh zu ihm und sprich mit ihm – er ist auf dem Dach«, fügte sie hilfsbereit hinzu, während Aurian, der es plötzlich leichter ums Herz war als in der ganzen letzten Zeit, bereits die Turmtreppe hinaufeilte. Sie war so mit ihren Gedanken an Anvar beschäftigt, daß sie überhaupt nicht bemerkte, daß Rabe verschwunden war.
Schwarzkralle fühlte sich unwohl in dem Pinienwald unterhalb des Turms. Dieser schien von allen Seiten auf ihn einzustürzen, versperrte ihm den Blick auf den offenen Himmel und rückte ihm so nahe, daß er kaum noch atmen konnte. Und trotz all der Widerstandskraft seiner Rasse gegen die
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