Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
hatte ihr Kind verflucht. Sie schauderte und kämpfte gegen eine Woge der Übelkeit. Welche Art von Ungeheuer mochte sie unter ihrem Herzen tragen? Gefangen in ihrem Elend, fürchtete sich ihr geschlagener Geist vor dem Eingeständnis ihrer bitteren Niederlage. Sollten sie doch eintreten, wer immer sie auch waren. Sollte Miathan doch mit ihr tun, was er wollte – denn er konnte ihr kaum Schlimmeres antun, als er bereits getan hatte. Wie hatte sie nur je hoffen können, ihn zu besiegen?
Plötzlich durchbrach ein furchtbarer Schrei Aurians Elend, und sie hörte einen Schwall undeutlicher Flüche, die sich gegen den Prinzen, sein Gefolge, seine Verwandten und Vorfahren richteten. Nereni! Es war Nereni, die Schimpfworte gebrauchte, bei denen die kleine Frau für gewöhnlich erbleichen und sich die Ohren zuhalten würde. Aurian spürte, wie ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, und schämte sich plötzlich. Wenn die schüchterne Nereni so viel Feuer und Kampfgeist aufbringen konnte, wie konnte sie, Aurian, eine Magusch und Kriegerin, es wagen, sich der Verzweiflung zu überlassen?
Aurian spürte kalten Stahl auf ihren Handgelenken, als Nereni die Lederriemen durchschnitt, mit denen sie gefesselt war, und unterdrückte einen Fluch, als das Blut wie eine glühendheiße Flut in ihre Hände zurückkehrte. Mit einiger Mühe gelang es ihr, ihre geschwollenen Augen zu öffnen. Nerenis Gesicht war vom langen Weinen entstellt, aber in ihren Augen brannte entrüstete Wut, als sie die Magusch in die Arme nahm. »Aurian! Was haben sie mit dir gemacht? Und das, obwohl du ein Kind erwartest?« Im Angesicht von Aurians Elend vergaß sie ihre eigene Not und wandte sich zornig an die Soldaten, die sie begleitet hatten. »Ihr da – holt etwas Wasser! Bringt auch Holz mit, um ein Feuer zu machen! Und holt jemanden her, der diese Falltür in Ordnung bringt! Wir mögen zwar Gefangene sein, aber wir brauchen nicht zu Tode zu erfrieren oder zu verhungern. Du da, du Sohn eines Schweines! Hol dieser armen Lady etwas zu essen!«
Einer der Soldaten lachte. »Wir nehmen keine Befehle von einem fetten, alten Weib entgegen!« höhnte er.
Nereni richtete sich zu ihrer vollen, bedeutungsvollen Größe auf. Zu Aurians gewaltigem Erstaunen ging sie drohend auf die Soldaten zu. »Aber ihr nehmt Befehle vom Prinzen entgegen, der euch gesagt hat, daß ihr euch um diese Lady kümmern sollt. Also, schwing jetzt endlich dein faules Hinterteil durch diese Tür und hol mir, was ich brauche, bevor ich seine Hoheit von deinem Ungehorsam in Kenntnis setze!«
Der Soldat wurde plötzlich weiß und eilte davon, um ihr zu gehorchen. »Und wenn du schon mal dabei bist«, bellte Nereni hinter ihm her, »bring auch gleich jemanden mit, der diesen Saustall saubermacht!«
Danach entwickelten sich die Dinge sehr schnell. Die Leichen der Geflügelten wurden weggebracht, und Soldaten kamen, um den abgewetzten Steinfußboden zu säubern. Irgend jemand brachte Holz herbei, und schon bald war die Luft von fröhlichem Knistern erfüllt, während die immer größer werdende Ramme im Kamin die Kälte aus dem Zimmer verscheuchte. Einer der Männer holte einen Sack mit Vorräten und anderen Dingen, die Nereni ihm sofort aus der Hand riß.
Als ihre Wachen gegangen waren, streifte Aurian mit einem Schauder des Ekels ihr zerrissenes Gewand ab und hüllte sich in die Decken, die man ihnen zurückgegeben hatte. Nereni reichte ihr ein mit kaltem Wasser getränktes Tuch, das sie sich gegen ihr geschundenes Gesicht halten konnte. Dann machte die alte Frau sich am Feuer zu schaffen.
Eingehüllt in die lärmende Fürsorge ihrer Freundin, spürte Aurian, wie die furchtbare Anspannung ihrer Verzweiflung langsam von ihr abfiel. Als das eisige Wasser den Schmerz ihrer Prellungen betäubte, suchte sie in sich nach den letzten Resten ihres Mutes und verwob sie miteinander zu einem Mantel aus stahlhartem Willen. Niemals wieder würde sie sich gestatten, aufzugeben. Wäre Nereni nicht gewesen …
Aurians Kinn fuhr mit der altvertrauten Geste der Sturheit in die Höhe. Sie würde sich nicht der Verzweiflung hingeben. Sie wollte einen klaren Verstand behalten, einen Verstand, der in der Lage war, jede Schwäche in Miathans Plänen zu entdecken. Es mußte eine Möglichkeit geben, wie sie sich selbst und Anvar retten konnte. Ach, ihr Götter – und ihr Kind! Als wolle er sie an seine Gegenwart und seine eigene Not erinnern, bewegte sich Forrals Sohn in ihrem Leib, und Aurian spürte, wie
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