Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
spuckte er sich in die Hände, schluckte seine Angst hinunter und kletterte den Mast hinauf.
Die Sache erwies sich als verblüffend einfach. Das rauhe, feuchte Holz bot ihm einen guten Halt, und es waren jede Menge Seile da, die ihm seine Aufgabe erleichterten. Den ersten Teil schoß er nur so herauf, weil er wieder einmal angeben mußte. Er hatte schon mehr als die Hälfte des verflixten Dings erklommen, als sich plötzlich alles veränderte. Nach und nach wurde der Mast immer schmaler, und er hatte Schwierigkeiten, ihn mit den Beinen zu umschlingen. Außerdem schaukelte das Schiff immer heftiger, je höher er kam, und der Mast wippte in der Luft hin und her. Grince wurde ganz flau im Magen, und sein Atem ging immer heftiger. Seine Hände wurden feucht von Schweiß, was das Klettern noch mehr erschwerte. Dann schaute er in einem unbesonnenen Augenblick auch noch hinunter – und erstarrte. Mit einem leisen Wimmern schloß er die Zähne fester um den Schaft des Messers und schlang sich gleichzeitig mit Armen und Beinen um das wippende Holz.
Nur sein Berufsstolz trieb den Dieb weiter hinauf. Vorsichtig schob er sich millimeterweise höher und vermied es, noch einmal hinunter auf das schmale Deck und all das Wasser zu blicken. Nach einer halben Ewigkeit stieß seine suchende Hand auf ein Gewirr von Seilen und auf eine lange Holzspiere, die sich darin verheddert hatte. Selbst Grinces ungeübtem Auge kam der Winkel, in dem das Rundholz herabhing, unnatürlich vor. »Das muß dann wohl dieses Gaffel-Ding sein«, murmelte er. Während er sich mit einer Hand festhielt, durchschnitt er das Gewirr von Seilen – und wäre um ein Haar mit samt der Gaffel aufs Deck gekracht, als die Gaffel ihn im Fallen hart an der Schulter traf und nur knapp seinen Kopf verfehlte.
Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er wieder heruntergekommen war. Als Grince wieder zu sich kam, stand er auf dem herrlichen, festen Deck, und zwei Männer schlugen ihm so heftig auf die Schultern, daß es seine Zähne durchrüttelte.
»Gut gemacht, Junge!«
»Du hast dich da oben wirklich gut gehalten – es war nicht leicht.«
»Komm schon, Jeskin – mal sehen, ob wir ihm nicht irgendwo was zu trinken besorgen können.«
Erfüllt von einem warmen Gefühl der Zusammengehörigkeit gelang es Grince, seine unendliche Erleichterung darüber, wieder an Land zu sein, vor den anderen zu verbergen. Die alten Männer brachten ihr Ruderboot an den Strand und führten den Jungen durch einen Tunnel, der sich verzweigte und wieder verzweigte, bis sie in eine riesige Küche kamen. Wie in einem Bienenstock summte es hier; offensichtlich wurde gerade die nächste Mahlzeit vorbereitet.
Grinces neue Freunde, die sich ohne jede Rücksicht ihren Weg durch die fleißigen Arbeiter bahnten, führten ihn quer durch die Höhle. »Emmie – he, Emmie? Hast du in deiner Speisekammer ein Tröpfchen Rum für einen tüchtigen Jungen?«
»Habt ein Herz, Männer – seht ihr nicht, daß ich beschäftigt bin?« Die schlanke Gestalt, die sich übers Feuer gebeugt hatte, drehte sich um, und eine blonde Frau, deren zarte, elfenhafte Züge das weiche Glühen der Jugend bereits verloren hatten, kam zum Vorschein.
Grince sah sie an, und die Welt schien sich um ihn zu drehen. Einen Augenblick lang war er wieder ein zehnjähriger Junge, der gerade von der ersten Person, die wirklich freundlich zu ihm gewesen war, seinen ersten wirklichen Besitz erhalten hatte. »Du!« stieß er hervor. »Emmie! Ich hätte nie gedacht, daß ich dich noch einmal wiedersehen würde!«
Die Frau zog ihre silbrigen Brauen verwirrt zusammen. »Kenne ich dich?«
Der Dieb wollte gerade den Mund öffnen, um eine Erklärung abzugeben, als es passierte. Unterm Tisch ertönte ein leises Jaulen, dann kam ein riesiger weißer Hund zum Vorschein, der gähnte und seine gewaltigen Gliedmaßen reckte. Die Erinnerung streckte Grince nieder wie ein Schwert. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und ihm wurde schwindelig, während ihm gleichzeitig die Tränen in die Augen schossen. Der Hund hätte der Geist seines eigenen geliebten Kriegers sein können!
Die überfüllte Küche mit all ihrer Hitze und ihrem Lärm trat in den Hintergrund. Der junge Dieb und der weiße Hund waren die einzigen Geschöpfe auf der Welt. Grince brachte keinen Laut hervor. Sein Herz versank in einer tosenden Woge von Erinnerung, Kummer und Freude. Der Hund witterte einen Fremden, der in Emmies Rudel Aufnahme gefunden hatte, kam neugierig
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