Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
Höhle, dachte Grince, obwohl sie wie alle Räume an diesem Ort aus festem Gestein herausgehauen waren. Aber auf dem Boden lagen dicke, bunte, gewebte Teppiche, und die Wände wurden von farbenprächtigen Wandbehängen aufgehellt. Kleine Lampen verströmten ihr helles Licht in Wandnischen oder hingen an Ketten, die in die ungleichmäßige Steindecke eingelassen waren. Und obwohl Grince keinen Kamin entdecken konnte, wurde in einem massiven Eisenofen Treibholz verbrannt, von dem noch ein ganzer Stapel in einem Korb in der Nähe des Ofens lag. Die Möbel waren einfach und aus einer Mischung aus glattem Holz und Treibholz gebaut. Es gab Holzregale, Schränke und Lagertruhen, und die Stühle waren mit getrocknetem Gras und Kräutern gepolstert.
»Das muß gefeiert werden.« Emmie holte eine Flasche Wein und zwei Becher aus dem Schrank und legte die Pasteten auf den Tisch.
Es war die beste Mahlzeit in Grinces Leben. Während des Essens erzählte Emmie ihm von ihrer Flucht aus Nexis, von der Nacht, in der Pendrals Männer sie angegriffen hatten. »Es gab soviel zu tun, als ich hierherkam, daß ich einfach dageblieben bin, als die übrigen Nexianer nach Hause zurückkehrten«, erzählte sie dem Dieb. »Hier war plötzlich ein Platz für mich – den Nachtfahrern fehlte eine Heilerin, und Remana brauchte meine Hilfe immer dringender. Als sie vergangenes Jahr starb, habe ich endgültig das Kommando übernommen. Und dann war da noch Yanis.« Zu seiner Überraschung sah Grince sie erröten. »Nun, er ist ein guter Mann – er hat das Herz am richtigen Fleck, und nur die Götter wissen, wie dringend er eine Frau brauchte, die sich um ihn kümmerte.« Emmie zuckte die Achseln. »Was sollte ich also tun? Er hat mir einfach keine Ruhe gelassen, bis ich schließlich ja sagte. Aber was ist mit dir, Grince? Ich dachte, du wärst tot. Was ist dir in jener Nacht zugestoßen? Wie bist du entkommen?«
Zuerst noch stockend, später dann immer flüssiger, erzählte Grince ihr die ganze Geschichte. Er hatte noch nie mit jemandem über diese furchtbare Nacht gesprochen, aber zu seiner Überraschung schienen die Worte, als er erst einmal angefangen hatte, mit zunehmender Leichtigkeit über seine Lippen zu kommen. Als er ihr vom Tod seiner Mutter erzählte und von den Greueln, die er hinter der brennenden Palisade gesehen hatte, weinte er. Seine Tränen strömten von neuem, als er schließlich von Krieger erzählte und davon, wie sein geliebter weißer Hund umgekommen war – abermals von der Hand eines der Soldaten Lord Pendrals. Emmie hielt ihn wie das Kind, das er bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, im Arm und teilte seinen Kummer, und als seine Tränen versiegten, fühlte Grince sich wie verwandelt. Es war, als hätte er sein halbes Leben lang eine eitrige Wunde mit sich herumgetragen, und heute nacht war das Gift endlich herausgeflossen.
Schließlich löste der Dieb sich aus ihrer Umarmung und putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das Emmie ihm aufmerksam in die Hand gedrückt hatte. Er lächelte sie unsicher an. »Es tut mir leid, ich …«
»Nein, das ist nicht nötig.« Emmie sah ihn warmherzig an. »Du hast all diesen Kummer viel zu lange in dir verschlossen, Grince – und ich meine nicht nur den Kummer um deine Mutter, sondern auch um den armen Krieger.« Sie seufzte. »Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Als ich vor zwei Jahren seine Mutter Sturm verlor, dachte ich, ich würde nie darüber hinwegkommen … Einige Leute schüttelten verwundert den Kopf – ich hatte einen Ehemann und zwei Kinder verloren –, und doch habe ich um einen bloßen Hund tief getrauert.«
»Ah, aber Sturm war nicht bloß ein Hund«, warf Grince leise ein. »Sie war deine Freundin.«
Emmie nickte. »Genau – das war sie. Und niemand hatte jemals eine bessere Freundin. Zumindest hatte ich mehr Glück als du, Grince. Sturm starb friedlich und hoch betagt an Altersschwäche, genau hier in diesem Raum – und ich hatte Schneesilber, ihre Tochter, die mich tröstete. Weißt du, es ist seltsam – sie war die einzige von Sturms Welpen, die wirklich nach ihrer Mutter kam, und sie stammte aus ihrem letzten Wurf. Es war fast, als hätte Sturm mir ein Geschenk zurückgelassen, damit ich, wenn sie nicht mehr war …« Ein plötzliches Lächeln erhellte Emmies Gesicht. Sie stieß ihren Stuhl mit einem lauten Kratzen zurück und sprang auf. »Grince, komm mit. Ich muß dir etwas zeigen.«
Von brennender Neugier erfüllt stand der Dieb hinter Emmie,
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