Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
hätte wohl den Mut zu einer solchen Tat aufgebracht?« Er seufzte. »Es ist eine doppelte Tragödie. Chiamh hätte schon vor langer Zeit eine Gefährtin nehmen sollen. Aber der Spott der Leute, die ihn mit Respekt und Ehrerbietung hätten behandeln sollen, hat ihn in die Einsamkeit getrieben. Er hatte keine Erben, Iscalda – seine Blutlinie hat hier geendet, heute nacht, in einem fremden Land. Die Xandim haben kein Windauge mehr und werden nie wieder eines haben. Es ist, als wären wir mit einem Schlag blind und taub gegen die tiefere Welt um uns herum geworden.«
»Versuch mal, das denen zu erklären«, sagte Iscalda verbittert. »Die schert das nicht im mindesten. Die meisten von ihnen haben nichts anderes im Sinn als Hurerei und Völlerei. Eine tiefere Welt brauchen die doch gar nicht. Abgesehen von Chiamh und Leuten seines Schlages, sind wir nicht viel weiter gekommen als die Herdentiere, aus denen man uns geschaffen hat.«
»Aber das gilt nicht für uns alle«, meinte Schiannath tröstend. »Wir haben zumindest gelernt, die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten. Und zu Chiamhs Gedenken werden wir die anderen mit uns nehmen – und wenn wir sie jeden einzelnen Zoll des Weges an den Haaren hinter uns her zerren müssen.«
Im Lichte der kleinen Laterne, die vom Mast baumelte, sah er Iscaldas Augen aufblitzen. »Willst du denn wieder zurückkehren und abermals um das Amt des Herdenführers kämpfen?« fragte sie verblüfft. »Nachdem du so viele von uns in die Sklaverei durch die Phaerie geführt hast, solltest du unsere Brüder besser um jeden Preis meiden. Wahrhaftig – sie werden uns in Stücke reißen, wenn wir versuchen zurückzukehren!«
»Möchtest du lieber den Rest deines Lebens im Exil verbringen?« fragte Schiannath. »Meinst du nicht, daß wir lange genug Verbannte gewesen sind?«
»Ich …« Ein kalter Windstoß wehte Iscalda die Antwort von den Lippen. Eine große, dunkle Gestalt ragte über Schiannath und Iscalda auf und raubte der Laterne ihr Licht.
Sie hörten Rufe, Schreie und Flüche, während die restliche Mannschaft und die Passagiere davonstoben, um sich irgendwo zu verstecken. Es war nicht mehr genug Zeit, um ein Schwert zu ziehen – die beiden Xandim warfen sich aufs Deck, während das furchteinflößende Wesen über sie hinwegfegte.
Schiannath, der seine Schwester wie immer zu schützen suchte, sprang vor sie – und prallte zurück, als das Geschöpf auf ihn herunterkrachte. Als ihn dann ein knochiger und allzu menschlicher Ellbogen im Gesicht traf, wußte er kaum, ob seine Augen von dem Schlag tränten, oder ob er vor Erleichterung weinte. Er kroch unter einem zuckenden Flügel hervor und half Linnet beim Aufstehen, bevor er Iscalda auf die Füße zog.
Das geflügelte Mädchen brachte vor Entsetzen kaum ein vernünftiges Wort heraus, und Iscalda hatte einige Mühe, sie zu beruhigen, während Schiannath, der sich seine blutende Nase abtupfte, die neugierigen Nachtfahrer zurückhielt. Jetzt, da man ihnen versichert hatte, daß es kein Todesgeist war, der über ihr Schiff herfiel, kamen sie alle wieder aus ihren Löchern gekommen.
Stück um Stück entlockte Iscalda Linnet ihre Geschichte. Als der Kampf begonnen hatte, war das junge Mädchen vernünftig genug gewesen, sich aus der Gefahr herauszuhalten – sie war auf das Dach der Höhle geflogen und dort geblieben. An einen Felsvorsprung geklammert hatte sie wie gelähmt vor Entsetzen und Furcht das Gemetzel beobachtet. Und selbst als die Schiffe schon ausgelaufen waren, hatte sie vor lauter Angst ihr Versteck nicht verlassen.
Erst der Todesgeist hatte schließlich die Macht besessen, das geflügelte Mädchen zum Handeln zu bewegen – ihr Refugium war nicht länger sicher, nicht vor diesem grauenerregenden Monstrum, das genausogut fliegen konnte wie sie selbst. Als der Geist in den Tunneln verschwunden war, um Jagd auf die Soldaten zu machen, hatte Linnet die günstige Gelegenheit genutzt und war aus dem Höhleneingang geflogen, hinaus aufs Meer und weg von den furchtbaren Ereignissen, deren Zeugin sie geworden war. Es dauerte nicht lange, bis sie sich in der Dunkelheit so sehr verirrt hatte, daß sie gewiß umgekommen wäre, hätte sie nicht das schwache, stecknadelkopfgroße Blinken der Laterne der Nachtfalke weit draußen auf den Wellen erblickt. Im Dunkeln hatte sie sich bei ihrer Landung böse verkalkuliert, aber glücklicherweise hatten Schiannath und Iscalda ihren Sturz gedämpft.
Während das geflügelte
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