Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
Mädchen seine Geschichte erzählte, wurde es immer ruhiger. Jetzt konnte Linnet sich voller Sorge nach ihren Freunden umsehen, um Trost aus den vertrauten Gesichtern zu schöpfen. Das einzige Gesicht, das sie jedoch wirklich sehen wollte, fehlte. »Wo ist Zanna?« fragte sie Iscalda mit vor Furcht bebender Stimme. »Geht es ihr gut? Sie ist doch entkommen, oder?«
»Keine Angst«, beschwichtigte Iscalda sie. »Sie ist unten in der Kabine, aber …«
»Ich muß zu ihr«, sagte Linnet und sprang auf.
Forral trat vor und versperrte ihr den Weg. »Nicht jetzt, Mädchen«, sagte er leise und griff nach ihrem Arm. An die versammelten Nachtfahrer gewandt sagte er: »Das ist es, was ich euch allen mitteilen wollte. Ich wünschte nur, es gäbe irgendeine Möglichkeit, den Schlag abzumildern. Valand, Zannas und Tarnals kleiner Junge, ist gerade an seinen Verletzungen gestorben.«
Schreie des Kummers und des Entsetzens wurden laut. Einer nach dem anderen wichen die Nachtfahrer vor dem Schwertkämpfer zurück, als wollten sie einen spürbaren Abstand zwischen sich und solch böse Kunde legen. Valand war nicht nur ein Kind von großem Selbstbewußtsein und Charme gewesen, das sich bei allen Nachtfahrern größter Beliebtheit erfreut hatte – er war auch Yanis’ Erbe, ihr zukünftiger Anführer. Für viele schien dies die endgültige Niederlage zu sein. Die Nachtfahrer waren vollständig geschlagen.
Bussarde flogen nicht bei Nacht. Sie flogen auch selten übers Meer. Aber der Bussard fragte sich nicht, warum er in diesem Augenblick beides tat. Er wußte nur, daß ihm etwas Kostbares genommen wurde – etwas, das so sehr Teil von ihm war, daß sein Fehlen tief in seinem Innern einen scharfen Schmerz hinterließ. Er spürte auch, daß es sich mit jeder Minute weiter von ihm entfernte. Und er wußte, daß er es wiederfinden mußte – oder sterben.
Obwohl er im Dunkeln nicht gut sehen konnte, witterte er, in welche Richtung dieses kostbare Etwas verschwunden war, nach dem er suchte. Er konnte es vor sich spüren – ein warmes Leuchten, wie die Sonne, die mit großer Kraft in sein Gesicht schien. Dieses angenehme Gefühl verflog, wenn er vom Weg abkam. Während der Bussard seinem Ziel näherkam, konnte er es in der Dunkelheit vor sich sehen – ein Licht, das nicht wie eine gewöhnliche Lichtquelle leuchtete, sondern eher wie ein Schimmer, wie ein einzelner, leuchtender Stern in seinen Gedanken.
Mit absoluter Gewißheit schoß der Bussard durch die Dunkelheit herab und landete auf einem schaukelnden Boot. Er konnte es jetzt sehen – dieses Etwas, das ihn gerufen hatte. Die große Frau, die ebenfalls so wichtig für ihn zu sein schien, hatte es sich auf den Rücken gebunden. Mit einem zufriedenen Flügelschlagen ließ der Bussard sich neben der Harfe der Winde nieder und schlief bis zum nächsten Morgen.
Während der Morgen heraufdämmerte und die Wogen immer höher gingen, nahm der Wind weiter zu. Hagelschauer zischten über das Wasser, als die Nachtfahrer auf Deck zusammenkamen. Sie brauchten nicht lange, um ihre Toten der Tiefe zu überantworten. Zuerst kamen die drei Erwachsenen, die alle, seit das Schiff den Anker gelichtet hatte, ihren Verletzungen erlegen waren. Man hatte sie in Laken gewickelt und mit Steinen beschwert und ließ sie nun, einen nach dem anderen, ins Meer gleiten. Zuletzt kam der mitleiderregend kleine Körper von Zannas Kind.
Als Valands Leichnam über das schräggelegte Brett ins Wasser rutschte, schoß Zanna mit einem Wimmern nach vorn und versuchte, die Decke zu packen, in die er eingewickelt war, als wolle sie ihn der hungrigen See entreißen. Tarnal hielt sie fest, und sie kämpfte wie ein Furie gegen ihn, weil sie ihrem Kind folgen wollte. Am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als sie hochzuheben und hinunter in die Kabine zu tragen, von wo ihre Schreie immer noch zu hören waren.
Alle Anführer waren in ihrer Trauer wie gelähmt. Zanna und Tarnal brauchten Zeit, um den Verlust ihres erstgeborenen Sohnes zu betrauern. Vannor war von dem doppelten Verlust Dulsinas und seines Enkels geschlagen, während Yanis seine geliebte Emmie beklagte. Schon bald wurde Forral klar, daß irgend jemand das Kommando übernehmen mußte, und wenn er auch nichts von Schiffen und vom Segeln verstand, so schien es doch, als käme kein anderer in Frage. Er rief die mutlosen Nachtfahrer an Deck zusammen und machte die beruhigende Entdeckung, daß praktisch alle, selbst die alten Großmütter, segeln
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