Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
weiterschieben mußte, bis sie aus der Gefahrenzone heraus war.
Aurian blickte stur auf den schmalen Pfad direkt vor ihren blutenden Händen, biß die Zähne zusammen, kroch immer weiter und versuchte, nur ja nicht innezuhalten. Jedes Mal, wenn sie gezwungen war stehenzubleiben, fiel es ihr anschließend noch schwerer, sich wieder in Bewegung zu setzen …
»Geh weiter, Aurian – du bist fast da.« Die leise Stimme des Windauges kam aus dem Nichts.
Die Magusch hob den Kopf und schüttelte sich das schweißnasse Haar aus den Augen. Direkt hinter ihrer rechten Hand befand sich ein verheddertes Netz aus dünnen Seilen, das sich über den Abgrund erstreckte; es war mit rostigen, tief in das Gestein getriebenen Eisennägeln am Gestein befestigt. Da der Turm sich nach oben hin verjüngte, hatte sich der Abstand zwischen ihm und dem Felsen mittlerweile verbreitert, und die Entfernung betrug nun ungefähr fünf Meter.
Aurian hatte schon vorher gespürt, daß ihr Mund sehr trocken war. Jetzt war ihre Kehle vollkommen ausgedörrt, während ihr Geist sich weigerte, die Möglichkeit, den Abgrund mit Hilfe dieser dürftigen Taue zu überqueren, auch nur in Betracht zu ziehen.
»Wirklich«, drängte das Windauge sie sanft, »es ist gar nicht so schwierig, wie es aussieht. Du stellst bloß deine Füße auf die unteren Seile, hältst dich an den oberen Tauen fest und schiebst dich ganz langsam weiter. Es ist praktisch unmöglich abzustürzen.«
Chiamh konnte von Glück sagen, daß Aurian in diesem Augenblick der Sprache nicht mehr mächtig war, aber er war doch nicht so weit entfernt, daß Aurian ihm nicht mit Hilfe der Gedankenrede das Bild einer extrem obszönen Geste hätte zusenden können.
Chiamh kicherte hinterhältig. »Das kannst du nicht in die Tat umsetzen, ohne hierherzukommen.«
»Und denk dran, Zauberin«, erklang nun auch Basileus’ Stimme, »wenn du nicht gehst, hast du nur eine Alternative: Du mußt über den Pfad wieder hinunterklettern – in deinem fall heißt das wahrscheinlich, daß du den ganzen Weg rückwärts zurücklegen müßtest.«
Aurian, die im Geiste alle beide verfluchte, holte tief Luft, kniete sich hin und griff nach den oberen Tauen über ihrem Kopf. Dann umklammerte sie sie so fest, daß ihre Hände wie Knoten aus Knochen waren, und benutzte sie, um sich auf die Füße zu ziehen. Anschließend schob sie die Füße mit äußerster Vorsicht Zentimeter um Zentimeter über die unteren Taue.
Wo die provisorische Brücke sich vom Felsen löste, sackte das Seil plötzlich unter dem Gewicht der Magusch zusammen. Aurian kreischte vor Entsetzen laut auf und klammerte sich an die oberen Taue. Der Magen schoß ihr in die Kehle, und sie biß sich auf die Zunge. Der Rest des Wegs lag in undurchdringlichem Nebel vor ihr. Aber in ihr Überlebensinstinkt schien Aurians bewußtem Denken das Kommando abzunehmen, und dieser Instinkt befand, daß sie den Abgrund so schnell wie möglich überwinden sollte. Sie erinnerte sich an ein hastiges, schlingerndes Taumeln, dem ein schrecklicher Augenblick erstarrten Entsetzens folgte, als sie beinahe ausrutschte – und dann streckte Chiamh die Hände nach ihr aus und zog sie auf sicheren Grund. Einen Augenblick später spürte sie seine Arme um ihren Leib, und sie fielen beide zusammen auf den festen Boden der Kammer der Winde. Es dauerte lange, bis das Zittern aus Aurians Gliedern wich. Ihr Geist hatte Mühe, das Entsetzen abzuschütteln, aber nach einer Weile dämmerte ihr langsam, daß sie nun in Sicherheit war.
»Gut gemacht, Zauberin«, dröhnte die Stimme von Basileus durch ihre Gedanken. »Du hast deine Furcht bezwungen, und du hast dich tapfer und des Stabes würdig erwiesen. Jetzt mußt du eine letzte, dunkle Reise bestehen, um sowohl s eine Macht als auch deinen Glauben an dich selbst wiederherzustellen.«
Aurian setzte sich auf und schob sich in die Mitte der Kammer der Winde, so weit wie möglich von den klaffenden Abgründen entfernt, die sie zu allen vier Seiten umgaben. Dann zog sie den leblosen Stab aus ihrem Gürtel, legte ihn sich quer über den Schoß und ließ die Hände über das glänzende, gewundene Holz gleiten. »Aber wie soll ich das zuwege bringen?« fragte sie.
»Verlasse deinen Körper, Zauberin. Reite mit dem Windauge die Winde und sieh, was du finden wirst.«
Obwohl die Magusch keine Ahnung hatte, wie ihr das weiterhelfen sollte, war sie doch bereit, es wenigstens zu versuchen. Sie sah Chiamh an.
»Ich bin bereit, das Risiko
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