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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Mischa. »Das zuerst.« Er griff durch ein Netz von Verbindungen und zerriß einen einzelnen Faden.
    Gemmis Schmerz verschwand mit der Durchtrennung der Synapse. Zum erstenmal in ihrem Leben verspürte sie keinen Schmerz; ihr Körper konnte ihr nicht länger weh tun, so wenig wie die Häßlichkeit, die sich nicht verbergen ließ.
    Krabbe durchtrennte die zweite Synapse, und Gemmi verschwand. Mischa setzte sich langsam auf und schüttelte benommen den Kopf. Sie erwartete einen leeren Stollen und Krabbe zu sehen und war verblüfft, daß alle noch da waren und sie in einem Kreis umstanden.
    »Wie lange ...?«
    »Zehn Sekunden, vielleicht«, sagte Jan.
    »Ich dachte, sie wären alle gegangen. Es kam mir wie Tage vor.«
    Er ließ sich neben ihr auf ein Knie nieder und strich ihr mit den Fingerspitzen das Haar aus der Stirn.
    »Sie ist fort«, sagte Mischa.
    »Krabbe ließ uns nicht an dich heran.«
    Krabbe schlug die Klauen zusammen, und Mischa erinnerte sich an den lauten Schlag: Es war sein Warngeräusch. »Wir machten etwas mit Gemmis Gehirn«, erzählte Mischa. »Sie kann beobachten, aber sie kann nicht mehr rufen. Und sie leidet keine Schmerzen mehr ...« Sie erschauerte, und Krabbe schmiegte sich an sie. Sie fühlte seine Verblüffung über das, was er gesehen hatte: so viele Menschen, alle auf einmal, jedes Individuum von einer eigenen Schattierung, einer besonderen Tönung, manche ganz, manche zersplittert, einige schwach und andere stark .. .
    »Subeins kehrt zurück«, sagte Mischa. »Ich konnte ihn sehen.«
    Subzwei blickte sie erstaunt an. »Er war verwundet. Eher würde ich glauben, daß er tot ist.«
    »Er kommt«, wiederholte sie. Sie wußte, daß sie ihn wieder fühlen könnte, wenn sie nur wollte, wie sie ihn zuvor wahrgenommen hatte: befriedigt und amüsiert vom Sieg über seinen Pseudozygoten, und stets bereit, in einen Zorn zurückzuschlüpfen, der Subzwei in seine Kämpfe hineinziehen würde.
    »Das sagst du, um mich zu ermutigen«, sagte Subzwei. »Damit ich mich an unsere Vereinbarung halte, ob er tot ist oder nicht.«
    Taumelig und matt, ließ sie sich von Jan aufhelfen. »Glauben Sie, was Sie wollen.« Sie hatte keine Energie übrig, um zu streiten. Krabbe, dessen kurzes Aufflackern von Einsicht schon wieder erloschen war, erinnerte sich kaum, was sie getan hatten. Er hatte nur Mischa helfen wollen, und das war ihm gelungen; aber hatten sie Gemmi geholfen? Sie war abgeschnitten von aller Erfahrung außerhalb dessen, was sie von andern sah. Sie litt nicht mehr unter Schmerzen, aber sie konnte verkrüppelt, verstümmelt, getötet werden. Sie leidet keine Schmerzen, sagte Mischa sich immer wieder und versuchte sich davon zu überzeugen, daß nichts weiter getan werden müsse. Wenn das Kind von Schlägen entstellt würde, ehe ihr Onkel zu der Erkenntnis gelangte, daß Mischa niemals zurückkehren würde, wenn Gemmi verunstaltet und häßlich gemacht würde, so würde sie es nicht wissen, ebensowenig wie sie jetzt wußte, ob sie schön oder häßlich sei. Welche Schuld könnte es geben, wenn sie stürbe? Mischa selbst hatte ihr tausendmal den Tod gewünscht.
    Mischa hätte Gemmi aufgeben können, als diese noch Macht über sie gehabt hatte, doch nun war es unmöglich. Die feinen ethischen Unterscheidungen waren nicht ihre Sache. Vielleicht hatte sich nur die Situation geändert; vielleicht war Mischa selbst eine andere geworden. Sie hatte nur die Gewißheit, daß sie Gemmi nicht lassen konnte, wo sie war. Sie machte sich auf den Weg.
    »Mischa – wohin gehst du?«
    Sie wandte sich zurück. Sie hatte nicht vergessen, daß die anderen da waren; sie hatten einfach keine Verbindung mit dem, was sie jetzt zu tun hatte. Jan sah völlig verblüfft aus, aber sie konnte sich nicht mit Erklärungen aufhalten. »Ich kann sie nicht verlassen«, sagte sie. »Ich kann sie nicht einfach sterben lassen.« Sie drehte sich um und rannte, fort vom Zentrum, fort vom Steinpalast, fort vom Schiff.
     
    Ihres Onkels Nische schien viel weiter entfernt, als sie tatsächlich war. Mischa keuchte mit trockener Kehle, als sie endlich vor den neuen Vorhängen haltmachte und sie zurückschlug.
    »Ah«, sagte ihr Onkel, im Begriff, einen feingearbeiteten Becher auf den Tisch zurückzustellen. »Sehr gut. Sehr schnell. Ich hoffe, dabei wird es von nun an bleiben.« Gemmi lag auf ihrer Matratze, lächelte sie an und gurrte.
    »Es gibt kein ›von nun an«‹, sagte Mischa.
    Er hob die Brauen und blickte zu Gemmi, die zu weinen begann.

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