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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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konnte sich nicht erinnern, wann die Anwesenheit des Freund-nicht-Feind verblaßt und verschwunden war. Sie richtete sich auf. An ihren Flanken begannen sich dicke Krusten von glänzendem Narbengewebe abzuheben. Anscheinend war jemand regelmäßig dagewesen und hatte die Wunden gewaschen und sorgfältig behandelt. Ihr Zeitgefühl war gründlich durcheinandergekommen. Sie vermutete, daß sie mindestens einige Tage ohne Bewußtsein gewesen war, verspürte jedoch keinen Hunger.
    Sie stand auf. Ihre Glieder waren steif, sie war schwach und unsicher auf den Beinen. Ihre Hose und das zerrissene Hemd lagen in einer Ecke am Boden, und sie mußte sich entschließen, ihre zweite Hose aus der Truhe zu nehmen, dazu ein reines Hemd und ihre abgenutzte Baumwolljacke. Dies strengte sie so an, daß sie sich setzen und ausruhen mußte.
    Nach einer Weile hörte sie vor der Höhle ein scharrendes Geräusch. Sie schlüpfte neben den Eingang, hatte aber keine Zeit mehr, die hellen und wohlgenährten Lichtzellen zu bedecken. Jemand stieß den Vorhang zurück und stellte eine Tasche herein. Einen Augenblick später schlüpfte Kiri durch die niedrige Öffnung, richtete sich unbeholfen auf, sah das leere Lager, blickte besorgt umher und sah mit Erleichterung, daß Mischa neben ihr an der Wand stand.
    »Du vernachlässigst dein Geschäft«, sagte Mischa.
    »Du solltest nicht auf sein.«
    »Was für einen Tag haben wir?«
    Kiri sagte es ihr. Mischas Schätzung von vier Tagen war um einen Tag zu kurz gewesen. Sie setzte sich auf die hölzerne Truhe, wollte die Knie anziehen und ließ es sein, als sie merkte, wie sehr es schmerzte, wenn sie den Rücken krümmte und die Schultern einzog. »Hör mal«, sagte sie. »Danke.«
    Kiri zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Alte Schuld.« Ihre Stimme war leise, und Mischa ließ das Thema fallen. Kiri schuldete ihr nichts. Wenn sie Chris etwas schuldig war, dann mußte sie wissen, daß sie es ihm nie entgelten konnte.
    »Wie fühlst du dich?«
    »Ziemlich gut.«
    Kiri zog eine heiße Flasche aus ihrer Tasche und öffnete sie. Der Geruch war angenehm, und obgleich Mischa sich nicht erinnern konnte, ihn schon einmal gerochen zu haben, kam er ihr vertraut vor. Sie schlürfte die dampfende Brühe und merkte, daß sie hungriger war, als sie gemeint hatte. »Bist du in Schwierigkeiten geraten?«
    Kiri schüttelte den Kopf. »Als ich von deiner Bestrafung erfuhr, hattest du es schon hinter dir.« Sie nahm Mischas Federmesser aus der Tasche und reichte es ihr. »Als ich hinkam, lag es noch da. Niemand hatte es gestohlen.« Mischa hing an dem Messer und hatte nicht erwartet, es wiederzusehen. »He, Kiri ...« Es fiel ihr nichts ein, was sie sagen könnte, ohne albern zu klingen.
    »Iß deine Suppe«, sagte Kiri.
     
    Nachdem Kiri gegangen war, schlief Mischa einige Stunden, aber als sie erwachte, war sie zu unruhig, um liegenzubleiben. Sie zog vorsichtig Hemd und Jacke an, verließ ihre Nische und ging langsam den Radialstollen hinunter. Als sie die Spirale erreichte, setzte sie sich an den Wegrand und blickte über das Zentrum hinaus. Der Steinpalast war wie ein leerer Fleck in der Wand, kahl und häßlicher als die Höhlenöffnungen und gleich Schwalbennestern an die Wände geklebten Behausungen und alles andere, was das Zentrum zu dem machte, was es war. Sie wußte, daß sie gegenwärtig nichts tun konnte, aber sie gelobte, daß sie es Clarissa eines Tages heimzahlen würde.
    In diesem Augenblick brachte eine Explosion einen Abschnitt der Palastwand zum Einsturz. Die Erschütterung ging durch den ganzen riesigen Höhlenraum. Eine Staubwolke breitete sich aus, und als die Druckwelle kam, schloß Mischa die Augen und bedeckte ihr Gesicht. Die Echos der Sprengung schlugen zwischen den Wänden hin und zurück, bis sie allmählich wie Riffel auf einer großen Wasserfläche verhallten.
    Alle Lichter gingen aus.
    Leute begannen zu schreien. Mischa hatte schon vor Jahren die Erfahrung gemacht, daß sie in der Dunkelheit besser sehen konnte als andere, es war ihr aber nie bewußt geworden, daß diese Fähigkeit sie vor der blinden, panischen Urangst schützte, denen andere in der Dunkelheit ausgeliefert waren. Aus allen Richtungen kamen Schreckensrufe, und für fünfzehn Sekunden regierte ein kollektives Angstgefühl: Wenige Bewohner des Zentrums hatten jemals totale Dunkelheit erlebt. Mischa verglich ihren Aufenthalt in der Isolierzelle mit dem, was die Leute ringsum durchmachen mußten, und verstand ihre

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