Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
Vom Netzwerk:
so daß er länger schien, als er tatsächlich war. Die Decke senkte sich, der Boden stieg an, und die Wände verengt ei' sich. Die so entstandene Perspektive verfälschte die Dimensionen, doch waren sie bei alledem so großzügig bemessen, daß d ie Flügeltür, zu der Mischa endlich gelangte, fast dreimal so hoch war wie sie.
    Noch immer war sie keiner Menschenseele begegnet. Die Fremden schienen sich ihrer Sache sehr sicher zu fühlen, daß sie auf die Postierung von Wachen verzichten zu können glaubten. Mischa drückte behutsam gegen den linken Türflügel, und er gab nach, schwang lautlos und leicht auf. Nach allen Kriterien vernünftigen Mißtrauens, wie Mischa sie sich in ihrer Diebeslaufbahn zu eigen gemacht hatte, hätte sie längst umkehren und diesen Ort fliehen müssen. Dennoch bewegte sie sich weiter, um in den Raum hinter der Tür sehen zu können, obwohl sie einen Ausruf, ein Alarmsignal und sogar den zupackenden Griff eines Türstehers erwartete. Sie fühlte ihre Rückennarben, die sie auf einer bestimmten Bewußtseinsebene immer fühlen konnte, jetzt und für alle Zeit.
    Sie zögerte, die Hand an der Tür. Wenn sie jetzt wegginge, würde sie für eine Weile sicher sein, aber das Endergebnis würde nicht viel anders aussehen als im Falle ihrer Vertreibung durch die Fremden. Die Geisteskrankheit ihrer Schwester würde auf sie einwirken, bis sie so hilflos und fügsam wäre wie das kleine Mädchen. Da wäre es gerade so gut, tot zu sein... Und außerdem würde Chris sterben, denn im Zentrum gab es keine Hilfe für ihn.
    Mischa schlüpfte in den Raum.
    Was sie sah, war kalt, eckig und mechanisiert, so vollständig verschieden von allem im Zentrum, was Mischa kannte, daß sie einige Sekunden brauchte, um sich zu orientieren. Dann begann sie Möbelstücke zu erkennen, Sitzgelegenheiten, elektronische Geräte. Die Einrichtung sah unbequem aus, und was es an Wandschmuck und sonstigen Dekorationen gab, empfand sie als unkünstlerisch. Die Geräte blieben ihr unverständlich. Obwohl der Raum leer war, fing sie menschliche Gefühlsregungen auf und schloß daraus, daß jemand in der Nähe sein mußte. Es waren unklare Eindrücke einer beängstigend frostigen Leidenschaftlichkeit, die sich zu einem Gipfelpunkt erhob, wie ein fast unhörbar hohes Geräusch an der Schwelle des Schmerzes. Der Gefühlsausbruch ließ abrupt nach und wandelte sich in eine fremde Gegenwart von geringerer Intensität.
    Der Nebenraum war ein Schlafzimmer. Im Bett saß eine Frau, hatte Mischa den Rücken zugekehrt und versuchte den Fremden zu liebkosen, der neben ihr lag. Er starrte zur Decke auf, ohne ihre Bemühungen zu beachten. Sie flüsterte etwas und strich ihm über den Brustkorb, streichelte seine Wange und wickelte ihre Finger in sein langes schwarzes Haar. Er schlug ihre Hand grob zur Seite und wälzte sich herum, daß ihr der breite Rücken zugekehrt war.
    Die junge Frau starrte ihn in ungläubiger Verblüffung an, dann stand sie auf, griff nach ihrem Kleid und arbeitete sich mit schlängelnden Windungen des Körpers in das enganliegende Gewebe. Mischa kannte sie vom Ansehen; die Frau hatte sich dem Gewerbe erst vor kurzer Zeit zugewandt und konnte sich dank ihren äußerlichen Vorzügen zu den respektierten und hochbezahlten Vertreterinnen ihres Berufsstandes zählen, die mit gutem Recht bessere Behandlung erwarten durften. Ihre weniger vom Glück begünstigten Kolleginnen ließen sich, wenn es anders nichts zu verdienen gab, gegen Bezahlung verprügeln.
    Die Frau sah Mischa und erkannte sie nicht. »Wer zum Teufel bist du? Was suchst du hier?« Zorn und Enttäuschung brachen aus ihr hervor, richteten sich gegen die Zeugin ihrer Erniedrigung. Sie funkelte Mischa an, fuhr herum und zog dem Fremden die Decke weg. Der Mann setzte sich mit unwilligem Grunzen auf. Seine Augen waren blutunterlaufen. »Ich sagte, du sollst mich in Ruhe lassen ...« Er sah Mischa und brach ab.
    Die Frau ließ den Deckenzipfel los. »Da ist er«, sagte sie zu Mischa. »Kannst ihn für dich haben.« Und sie marschierte wütend hinaus.
    Der Mann musterte Mischa mit finsterer Miene, ohne ein Wort zu sagen. Sie wußte nicht, welcher Bruder er war, und was sie von seinem Gefühlsleben auffing, gefiel ihr nicht. Ihr Wunsch, das Weite zu suchen, nahm weiter zu, doch war er noch immer weniger stark als die Gründe ihres Kommens.
    Er schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Er war athletisch gebaut, annähernd zwei Meter groß und breitschultrig.

Weitere Kostenlose Bücher