Die Asche der Erde
Heute früh sagte er, er sei nicht sehr gut in Mathematik und wolle Sie fragen, ob Sie mir weiterhelfen könnten.«
»Ich sehe.«
»Ich finde ihn gut«, sagte sie defensiv.
Also hatte Hikaru ihr nicht alles gesagt, was er glaubte, oder hatte ihr verschwiegen, wieviel es bedeuten mochte. Vermutlich hatte er Mischas Erwartungen nicht wecken wollen, ohne zu wissen, welche Art von Hilfe Subzwei geben würde. Subzwei seufzte. Er war mit sich selbst aufrichtig genug, um sich einzugestehen, daß er nahe daran gewesen war, Hikaru mit seinen zeitraubenden Ideen wegzuschicken.
»Komm herein!« sagte er. »Ich möchte einen Versuch mit dir machen.«
Er forderte das biomedizinische Programm an und wickelte die Elektrodenkabel ab. »Setz dich da hin.«
»Was ist das?«
»Elektroden – Kontakte, die zu einem Instrument führen, das deine Gehirnströme mißt.«
»Ich weiß ... aber wozu?« Sie beäugte die einfachen Vorrichtungen mißtrauisch, beinahe ängstlich.
»Nur um die Reaktionen deines Gehirns zu testen. Es dauert nur einen Augenblick und tut nicht weh.«
»Was ist am anderen Ende?«
»Ein Aufzeichnungsgerät«, sagte er, verwundert über ihre Fragen. »Es gibt die Meßergebnisse an den Computer weiter.« »Keine Muster?«
»Wie bei einem Schloß, meinst du? Nein, natürlich nicht. Das wäre sinnlos. Dieses Gerät vergleicht nicht, es untersucht nur.«
»Gut«, sagte sie zögernd, und danach schien sie sich zu entspannen. Er befestigte die Elektroden mit Klebeband an ihren Schläfen, da er die selbsthaftende Art nicht billigte. Er schaltete die Deckenbeleuchtung aus.
»Schau in diese Bildröhre.«
Sie strich sich das Haar aus den Augen und gehorchte. Der Bildschirm zeigte nichtssagende Figurationen aus Wellen und Geraden, die ineinander übergingen und sich so veränderten.
Nach einer kleinen Weile schaltete er das Gerät aus und die Deckenbeleuchtung wieder ein. »Sehr gut.«
»Ist das alles?«
»Ja. Du kannst die Elektroden abnehmen.« Subzwei beugte sich über den Datenanschluß und las die Testauswertung, wie sie vom Computer ausgegeben wurde.
»Warte ...!«
Dann fiel ihm ein, was Jan Hikaru gesagt hatte: Er brauche ihre neuralen Reaktionen nicht zu messen, weil er wochenlang mit ihr gearbeitet habe.
Subzwei wußte, daß seine Instrumente einwandfrei funktionierten. Sie maßen die Zeit, die ein menschliches Gehirn benötigte, um auf Veränderungen in einem Muster zu reagieren, in Tausendstelsekunden. Das Programm war unabhängig von Bildungsstand, Motivation und allen anderen Faktoren, die eine Leistung über oder unter dem Durchschnitt beeinflussen konnten. Sie maßen nur das Potential, und Mischas Potential war erstaunlich.
»Schon gut«, sagte er, ein wenig benommen. »Alles klar. Sag Jan Hikaru, daß er gut daran tat, mit mir zu sprechen. Wir werden uns morgen früh weiter unterhalten.«
Sie nickte und starrte ihn neugierig an; er hatte das Gefühl, daß sie seine Verblüffung gespürt hatte, doch als er ihr zunickte, ging sie wortlos hinaus, und Subzwei setzte sich wieder an den Datenanschluß, vertiefte sich in das Testergebnis und verspürte ein wachsendes, tiefes Bedauern, daß Mischa nicht anderwärts zur Welt gekommen war, wo sie die besten Jahre zum Lernen nicht verschwendet haben würde: ihre Kindheit.
Sie durchschritt langsam den kahlen Plastikkorridor, gehemmt von innerem Widerstand, denn sie konnte nicht wissen, was sie an seinem Ende, in Subzweis Räumen, erwartete. Sie war auf alles gefaßt; in ihren langen Dienstjahren im Steinpalast war sie die stumme Zeugin von Grausamkeiten gewesen, die über alles hinausgingen, was sie Subzweis Vorstellungskraft zutraute. Schmerz konnte sie nicht ängstigen; sie hatte schon als Kind Schmerzen ertragen und überlebt. Wenn Subzwei Schmerzen zufügte, so verschaffte es ihm wenigstens keinen Genuß; auch demütigte er nicht absichtlich. Sie hatte immer bereit sein müssen, beides für die Dauer ihres Lebens zu ertragen, denn im Steinpalast war das eine wie das andere letzten Endes unausweichlich.
Sie kratzte an der Tür, hörte Subzweis tiefe Stimme und trat ein, als die Tür aufschwang. Ehe sie ein Wort herausbrachte, trat er auf sie zu und streckte ihr wie ein Bittender die Hände entgegen. »Waren Sie dort? Haben Sie gehört? Haben Sie verstanden?«
»Ich weiß, daß Sie mit dem Herrn zusammentrafen«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. All ihre Erfahrung riet ihr zur Vorsicht und drängte sie, auf Möglichkeiten zu sinnen, die
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