Die Asche der Erde
»Nein«, murmelte sie, »nicht jetzt. Geh fort!« Aber sie sprach mehr zu sich selbst, nicht zu Gemmi. Gemmi konnte nicht verstehen.
Mischa hielt still, zog sich in der Hoffnung, Gemmi werde sie verlieren, in sich selbst zurück und wartete. Es war möglich, daß Gemmi nur alte Erinnerungen durchlebte; bisweilen stellten sie sich ungebeten ein, und das Kind hatte keine Möglichkeit, sie zurückzuhalten. Aber dies war wirklich: Kreischend fand sie Mischa wieder und wimmerte, rief sie aus Angst, Schmerzen zu erleiden, zu sich.
Mischa hatte den Ruf erwartet und gewußt, daß mindestens ein Besuch beim Onkel unausweichlich wäre, ehe sie mit Subzwei das Zentrum verlassen könnte. Sie hatte sich nicht allzusehr darum gesorgt; solange sie ihre Pläne geheimhielt, sollte alles wie gewohnt seinen Fortgang nehmen. Aber der Ruf war zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ergangen. »Ich kann jetzt nicht kommen!« schrie Mischa in die Stille des Raumes. »Ich werde später kommen. Morgen. Geh fort!« Gemmi weinte und schrie wieder, daß ihre Stimme in Mischas Kopf widerhallte. Mischa wußte, daß keine Versprechungen ihre Schwester beruhigen konnten, sondern nur ihr eigenes Erscheinen. Sie stand auf und zog ihre Beute aus dem Versteck, einer Felsspalte hinter dem Wandteppich. Den Lederbeutel mit Steinen steckte sie in die Hosentasche, den wertvolleren Augenschmuck in seinem flachen Lederetui verbarg sie in einer Innentasche der Jacke. So verließ sie ihr Zimmer.
Im Korridor begegnete sie Jan, der sie lächelnd grüßte, sich aber sogleich ernüchterte, als er ihre düstere Miene bemerkte. »Was ist geschehen?«
»Ich muß fort.«
»Wirst du bis morgen früh zurück sein?«
»Ich werde es versuchen«, sagte sie. Sie hatte den Vorsatz, wußte jedoch, daß es nicht einfach sein würde, bis zu ihrem vereinbarten Besuch bei Subzwei zum Rand der Stadt und zurück zu gelangen. »Ich kann nichts daran ändern, es ist etwas, was ich erledigen muß.« Gemmi spürte, daß sie haltgemacht hatte, und begann wieder zu kreischen. Mischa schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, sie zu beruhigen. »Ich komme«, flüsterte sie.
Jan nahm sie beim Arm, beugte den Kopf und spähte ihr ins Gesicht. »Fehlt dir was?«
Sie blickte zu ihm auf. Seine hellen Augenbrauen waren zusammengezogen, die Augen darunter waren forschend und voll Mitgefühl; durch das Kreischen in ihrem Kopf war ihr dumpf bewußt, daß sie ihn um Hilfe bitten wollte. »Nein«, sagte sie mit einem resignierten Ausstoßen des Atems. Sie konnte ihn um nichts bitten. Sie machte sich los und ging weiter.
»Mischa?«
Sie wandte sich rasch um, plötzlich ungeduldig.
»Wenn ich helfen kann ....«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Danke, aber das ist nicht möglich.«
Jenseits der regulären Tunnels und Stollen des Zentrums begannen die Höhlengänge abwärts zu führen. Mischas Familie, als sie noch eine Familie gewesen war, hatte in den Wurzeln des Systems gelebt, beinahe im tiefen Untergrund. Gemmi ließ Mischa keine Ruhe, jammerte und drängte sie zu schnellerem Gehen. Mischa ließ sich nicht antreiben, versuchte aber auch nicht, ihre Schwester wegzustoßen. Gemmi wurde nicht geschlagen. Ihr Onkel hatte seit der Zeit, als er sie krank gemacht hatte, damit aufgehört.
Manchmal hoffte Mischa, er werde sie töten.
Beim Gedanken an den Tod schrie Gemmi laut auf. Ihre Furcht überschwemmte Mischa mit einem Geschmack wie von geschmolzenem Kupfer. Die Intensität des Gefühls erschütterte sie, und es kostete sie Zeit und Anstrengung, bis sie ihre Schwester soweit besänftigt hatte, daß Gemmi nur noch wimmerte. Mischa blieb stehen und lehnte sich an die Stollenwand. Gemmi wußte nicht, was der Tod war, aber er ängstigte sie; sie spürte es jedesmal, wenn jemand in ihrem Wahrnehmungsbereich starb. Ihre Wahrnehmung vom Sterben war so unscharf und von Furcht gefärbt, daß Mischa nicht zu sagen wußte, was ihrer Schwester solche Angst einjagte.
Als sie ruhiger geworden war, setzte sie ihre Wanderung fort. Sie passierte den Brunnenraum mit dem kühlen Geräusch plätschernden Wassers und kam in den vertrauten Verbindungstunnel, in dem jedesmal, wenn Mischa hierher zurückkehrte, weniger Lampen brannten. Sie fielen aus, und niemand machte sich die Mühe, sie zu ersetzen. Nun, bei Nacht, verbreiteten sie ein trübes Glimmen.
Mischa kannte jeden, der hier unten lebte; es waren ebenso viele verschiedene Typen wie Individuen. Ein paar von ihnen hatten ein gutes Leben
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